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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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sehen.«
    »Bei den Kannibalen ist es vielleicht auch so.«
    »Kann gut sein. Aber da die Katholiken letztlich nur Brot essen und keine Menschen, sind sie eher eine Art sublimierende Kannibalen – oder vielleicht sollte man sagen: transsubstantiationierte Kannibalen. Das Merkwürdige ist übrigens, daß es dieses magische Verspeisen Gottes in der jüdischen Religion nicht gibt. Das scheint aus Ägypten zu stammen, aus dem Kult des Osiris, der auch vom Tode auferstanden ist. Im Tempel von Jerusalem wurden nur Lämmer geopfert, und Christus sagte, auch er sei ein Opferlamm. Außerdem vergleicht er sich mit dem Tempel.«
    »Das Gebäude hat offenbar großen Eindruck auf ihn gemacht.«
    »Das kann man wohl sagen.«
    Wenn das Pantheon ein Bild des Kosmos war, dachte Quinten, war der Tempel von Jerusalem offenbar ein Bild des Menschen. Zusammen waren sie alles.
    »Und dieser Leuchter?«
    »Das war der heiligste Gegenstand der Juden. Die Menora.
    Gott höchstpersönlich hat Moses wissen lassen, wie sie gemacht werden sollte.«
    »Und das haben die Römer einfach mitgenommen?«
    »Du siehst es ja. Übrigens ist sie hier nicht ganz korrekt abgebildet, aber aus irgendeinem Grund hat Israel diese Abbildung zum Staatssymbol gemacht.«
    Quinten sah sich das fast mannshohe Ding eine Weile an.
    »Und wo ist sie jetzt?«
    »Das weiß niemand. Vermutlich im fünften Jahrhundert von den Vandalen geraubt. Das waren Germanen, die in Nordafrika einen eigenen Staat gegründet hatten. Daher stammt unser Wort Vandalismus.« Während er das sagte, spürte er plötzlich eine große Müdigkeit in sich aufsteigen.
    Lockere Kapitelle, Pflastersteine, ausgetretene Stufen, Inschriften, Höhlen. Überall streunende Katzen, die sich belauerten. Hier war einmal der Mittelpunkt der Welt, überlegte Quinten, alle Wege führten hierher, nicht nur der des Titus aus Jerusalem, sondern jetzt auch seiner aus Westerbork – aber das war dennoch etwas anderes als die Mitte der Welt.
    Oder nicht? Auf der anderen Seite des Forums, am ›Schwarzen Stein‹, dem Lapis Niger, blieb er stehen. Die Bedeutung des schwarzen Marmorblocks, der wie in einem Nabel in einer Vertiefung lag, war ihm unbekannt. Dem Reiseführer zufolge hatte er möglicherweise etwas mit der Zerschlagung der etruskischen Herrschaft zu tun, vielleicht war es aber auch das Grab von Romulus, des mythischen ersten Königs von Rom aus dem achten Jahrhundert vor Christus. Schon zur Zeit des Julius Cäsar war dieser Platz heilig. Quinten ging die Stufen hinunter, mit jeder Stufe ein Jahrhundert tiefer in die Vergangenheit, und kniete sich vor dem verwitterten, rechteckigen Stein unter dem Lapis Niger, in dem noch Reste von Inschriften zu sehen waren, auf den Boden. Er wollte seinen Vater fragen, ob er sie lesen könne, aber Onno war oben geblieben.
    »Papa!« rief er. »Komm mal und schau dir das an. Was steht hier?«
    Von oben sah Onno auf ihn herunter und wischte sich mit dem Ärmel die Stirn.
    »Vermutlich irgendein Ritus. Es ist sehr frühes Latein, aber fast nicht mehr lesbar. Zu entziffern ist nur noch, daß der, der diesen Platz schändet, verflucht ist. Also komm lieber schnell wieder herauf.«
    »Warum kommst du nicht kurz herunter?«
    »Ich bin mir darüber im klaren, daß ich dich erblich belastet habe, Quinten, aber ich will mit Schrift nichts mehr zu tun haben. Das mußt du verstehen. Laß uns gehen. Mir ist schwindlig.«

    Am nächsten Tag, Pfingstsonntag, war das Wetter umgeschlagen. Dunkelviolette Wolken trieben über die Stadt, und aus der Ferne war ab und zu ein dumpfes Grollen zu hören. Nach dem Frühstück bei Mauro wollte Quinten sofort zu San Pietro in Vincoli, als hätte er dort eine Verabredung, zu der er nicht zu spät kommen durfte. Die mittelalterliche Kirche stand an der Stelle der römischen Präfektur, wo Petrus und Paulus in Ketten geschlagen worden waren, an einem stillen, abgeschlossenen Platz nicht weit vom Forum entfernt; der schwarze Eingang erinnerte an ein Mauseloch.
    Obwohl keine Messe gelesen wurde, war die Kirche voller betender Menschen. Suchend sah er sich im Dämmerlicht um – und entdeckte im rechten Seitenschiff plötzlich die Gestalt, mit der er schon so lange eine Verabredung hatte. Verdutzt sah er diesen berühmten Rest, der übriggeblieben war, nachdem Michelangelo den überschüssigen Marmor weggehauen hatte: der gehörnte Moses , den er von dem Bild, das in Theo Kerns Atelier mit einem Reißnagel an einen Balken geheftet war, so gut kannte –

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