Die Entdeckung des Himmels
er hätte sich genau ausrechnen können, daß er sofort mit jüdischen Ansprüchen konfrontiert gewesen wäre und welchen Aufruhr das ausgelöst hätte.
Die Unkenntnis der letzten Päpste braucht deiner Theorie ja nicht zu widersprechen, denn seit dem dreizehnten Jahrhundert kann zum Beispiel ein Camerlengo zwischen zwei Päpsten gestorben oder zusammen mit seinem Heiligen Vater ermordet worden sein, und damit wäre der Faden gerissen. Und vielleicht stand es sogar irgendwo schwarz auf weiß, in einer Schenkungsurkunde Konstantins, die dann in Avignon verlorengegangen ist, denn du kannst mir glauben: Das große Chaos herrscht immer und überall. Aber die jüdischen Ansprüche, Quinten, das ist der kritische Punkt. Durch die Existenz des Staates Israel haben diese Ansprüche mittlerweile auch eine politische Dimension bekommen, und unserem Johannes Paul fällt es natürlich im Traum nicht ein, in ein Wespennest zu stechen. Er hat genug damit zu tun, die Kommunisten in Osteuropa zu frustrieren. Selbst wenn er deine Theorie für völligen Quatsch hielte, würde er dennoch nicht das geringste Risiko eingehen, bloß damit du vielleicht recht haben könntest. Warum sollte er? Er hat dabei nur etwas zu verlieren. Angenommen, die Tafeln würden tatsächlich zum Vorschein kommen. Was dann? Sie den Juden zurückgeben? So eine superheilige Reliquie? Der Heilige Stuhl hat Israel nicht einmal anerkannt. Nicht zurückgeben? Um dann wieder etwas über die christlichen Wurzeln des Antisemitismus zu hören zu bekommen? Über die lasche Haltung von Pius XII. gegenüber den Nazis? Über deutsche Kriegsverbrecher, denen nach dem Krieg in katholischen Klöstern Asyl gewährt wurde? Proteste der jüdischen Lobby in den Vereinigten Staaten? Diplomatische Probleme mit Washington? Verfluchung des Papstes durch den Oberrabbiner? Landung israelischer Fallschirmspringer auf der Piazza San Giovanni in Laterano, um die Zehn Gebote zu entführen und zurück nach Jerusalem zu bringen? Triumph des ultraorthodoxen Judentums über den Islam? Vertreibung der Moslems vom Tempelberg? Errichtung eines vierten Tempels für die Gesetzestafeln? Ausrufung von el Jihad – des Heiligen Krieges? Raketenangriff iranischer Fundamentalisten auf Tel Aviv? Ausbruch des Dritten Weltkriegs? Nein, mein Junge, glaub mir, auch der berühmteste und katholischste Archäologe der Welt würde diese Erlaubnis nicht bekommen. In einem höflichen Schreiben würde ihm im Namen Seiner Heiligkeit mitgeteilt, daß Professor Hartmann Grisar SJ den Altar bereits mit äußerster Gründlichkeit untersucht habe und daß dort nichts Derartiges gefunden worden sei. Vergiß es. Dieser Altar wird auch in tausend Jahren nicht geöffnet.« Onno schwieg. Er hoffte Quinten endlich auf andere Gedanken gebracht zu haben. »Übrigens: Grisar erwähnt, er habe seine Erlaubnis am 29. Mai 1905 erhalten – und vorhin sah ich auf der Herald Tribune, daß das heute genau achtzig Jahre her ist.«
Es blieb still.
»Dann werde ich morgen also siebzehn«, sagte Quinten schließlich verwundert.
Quinten hatte keinen Moment an seinen Geburtstag gedacht. Seit er aus den Niederlanden weg war, hatte die Zeit für ihn die Unendlichkeit früherer Sommerferien angenommen.
»Na bitte!« rief Onno. »Das auch noch! Die Zeichen sind günstig – und das werden wir gleich feiern, Schlag zwölf bei Mauro an der Ecke. Sag nur, was du dir wünschst, du bekommst es unbesehen.«
Nach einigen Sekunden kam aus der schwarzen Fensteröffnung Quintens Stimme, und seine Umrisse waren kaum noch von der Sternennacht zu unterscheiden:
»Deine Hilfe.«
»Meine Hilfe? Wobei?«
»Beim Zutagefördern der Zehn Gebote.«
»Lieber Quinten«, sagte Onno nach einigen Augenblicken mit gespielter Ergebenheit, »damit scherzt man nicht. Du willst mir doch nicht erzählen, daß du wirklich mit dem Gedanken an Gewalt spielst?«
»Doch. Das heißt – ich spiele nicht. Und Gewalt? Nein. Zumindest – wenn alles, was ohne Erlaubnis geschieht, Gewalt ist, dann schon, ja.«
Onno tastete auf dem Tisch nach Streichhölzern und zündete eine Kerze an. Als er Quintens Gesicht sah, mit zwei kleinen Flammen in seinen dunklen Augen, wußte er, daß es ihm Ernst war. Das war doch undenkbar! Er hatte sich bis jetzt von Quintens ebenso ansteckender wie unerbittlicher Begeisterung manipulieren lassen, aber das hier war nun wirklich der Moment, einen Punkt zu machen.
»Es reicht jetzt, Quinten«, sagte er bestimmt. »Man muß auch wissen, wann man
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