Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
Vom Netzwerk:
Zeichnungen an und glitten mit dem Zeigefinger über Grundrisse. Ergänzt durch Quintens eigene Beobachtungen arbeiteten sie einen Plan aus, der Quinten zufolge nicht mißlingen konnte. Onno hingegen behauptete, alles könne mißlingen, sogar der Mißerfolg, worauf er sich kurz zurücklehnte und Quinten von dem Phänomen des mißlungenen mißlungenen Selbstmords erzählte: das Ziel sei, durch einen mißlungenen Selbstmordversuch die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, was aber mißlang, weil der Selbstmord unverhofftgelang.
    »Ist etwas Traurigeres denkbar?« fragte er lachend.
    Daß er Helfer bei Quintens überdrehtem Unternehmen sein würde, hatten sie zwar nicht dezidiert verabredet, aber Quinten schien davon auszugehen – und seit er sich nun mal ziemlich ratlos in dieses Abenteuer gestürzt hatte, ergriff ihn eine Art väterlicher Leichtsinn. Das Vorhandensein der Gesetzestafeln in diesem Altar war für ihn immer noch absoluter Unsinn, das ganze Vorhaben würde auf eine schreckliche Antiklimax hinauslaufen, weil sie nicht einmal imstande wären, die erste Tür zu öffnen, und der Schlag käme ihn hart an – aber wer hatte schon einen Sohn mit solch phantastischen Ambitionen? Und was wollten andere dagegen? Wer hatte schon einen Sohn, der den Dekalog wollte?
    Da das Relief im Titusbogen nicht aus größerer Nähe betrachtet werden konnte, gingen sie mittags zur Piazza Monte Citorio, wo gegenüber dem Parlament eine große Buchhandlung war. Als sie am Pantheon vorbeikamen, blieb Onno plötzlich stehen und fragte:
    »Solltest du nicht mal deine Großmutter anrufen?«
    »Nein«, sagte Quinten sofort.
    »Quinten! Sie sitzt ganz alleine in diesem Schloß und weiß, daß du Geburtstag hast. Meinetwegen kannst du ihr ruhig erzählen, daß du bei mir wohnst. Kannst du dir nicht vorstellen, daß sie sich Sorgen macht? Du bist jetzt seit drei Wochen von zu Hause weg!«
    »Du warst noch viel länger von zu Hause weg, ohne anzurufen.«
    Für den Rest des Spaziergangs sagte Onno kein Wort mehr.
    Quinten hatte ihm vielleicht verziehen, aber vergessen würde er nie etwas. Auch daß er Quinten so lange im Stich gelassen hatte, verpflichtete ihn letztlich, bei diesem idiotischen Abenteuer mitzumachen.
    In der Buchhandlung fanden sie in der kunsthistorischen Abteilung ein umfangreiches Standardwerk über das Monument, in dem eine Reihe detaillierter Bilder des Reliefs zu sehen waren. Aufmerksam studierte Onno den gesichtslosen Mann ganz links, am Ende des Zuges.
    »Ja«, sagte er schließlich. »Wenn man es sehen will, kann man es sehen, der Mann trägt etwas Flaches mit sich herum.«
    »Hab ich es nicht gesagt?«
    »Unbedingt.«
    Auf der Via del Corso nahmen sie den Bus und fuhren zum Sancta Sanctorum, um sich über die Öffnungszeiten zu informieren und ihren Plan mit den örtlichen Gegebenheiten abzustimmen. Es schien, als wären die knienden Gläubigen auf der Treppe noch immer dieselben, und auch in der stillen Kapelle war alles unverändert. Zufrieden betrachtete Onno die mächtigen Gitter und Schlösser: Was französischen Plünderern vor vierhundertfünfzig Jahren nicht gelungen war, würde auch Quinten nicht gelingen. Aber Quinten würdigte den Altar keines Blickes mehr; offenbar war er sich seiner Sache inzwischen so sicher, daß er nur noch an technischen Einzelheiten interessiert war. Als würde er die Deckenmalereien bewundern, zeigte er Onno, daß nirgendwo Kameras angebracht waren. Das Heiligtum wurde offenbar ausschließlich als Pilgerort betrachtet und nicht als Museum; das übernatürliche Gemälde des Erlösers auf dem Altar mochte zwar wunderbar sein, dachte Onno, aber im Kunsthandel war es keinen Pfennig wert. Als die alten, wie Ölbäume krummgewachsenen Patres Quinten sahen, erschien auf ihren Gesichtern wieder ein zärtlicher Glanz; vielleicht wußten sie selbst nicht, an was er sie erinnerte.
    »Die sind alle taub«, flüsterte Quinten.
    »Hoffen wir’s.«
    Als sie wieder draußen waren, schlug Onno vor, die Sache jetzt erst einmal gut sein zu lassen.
    »Es ist wie bei einer Prüfung: am letzten Tag darf man sich nichts mehr einpauken wollen und muß alles von sich fernhalten, damit das Hirn wieder zu Kräften kommt. Deswegen feiern wir jetzt deinen Geburtstag; hinter der Piazza Navona weiß ich ein gutes Restaurant. Morgen erledigst du deine kriminellen Einkäufe, ich werde mich noch ein bißchen über die Zehn Gebote informieren, und um die Zeit totzuschlagen, holen wir sie uns übermorgen.

Weitere Kostenlose Bücher