Die Entdeckung des Himmels
aber wenn man genau hinsieht, ist zu erkennen, daß er auf jeden Fall etwas in der rechten Hand hält, etwas Schweres und Rechteckiges, das ihm ungefähr bis zum Ellbogen reicht.« Er nahm das Buch vom Tisch und hielt es in der Höhe des Oberschenkels in der Hand. »Soll ich dir sagen, was er in der Hand hat?«
»Ich bin gespannt.«
»Die beiden Gesetzestafeln von Moses mit den Zehn Geboten.«
58
Vorbereitungen
Verblüfft starrte Onno ihn an.
»Das war dieses sogenannte jüdische Gesetz‹!« rief Quinten.
»Wie groß waren diese Gesetzestafeln?«
Onno beugte sich über eine Notiz.
»Nach R. Berechiah, einem Rabbiner aus dem vierten Jahrhundert, sechs Tefah lang und zwei Tefah breit.«
»Und wie groß war ein Tefah?«
»Eine Handbreit.«
»Und wie breit ist eine Hand?« sagte Quinten, während er auf seine eigenen Hände sah. »Acht Zentimeter? Das heißt also: achtundvierzig mal sechzehn Zentimeter! Stimmt ganz genau!«
»Aber dieser Herr Berechiah hat sie nie gesehen.«
»Jetzt ist doch alles klar, Papa!« Aufgeregt begann Quinten im Zimmer auf und ab zu gehen. »Hör zu«, sagte er und schaute zu Boden, »Jeremia hat die Lade mitgenommen und in einer Höhle versteckt, aber das muß nicht bedeuten, daß er die Gesetzestafeln dort gelassen hat. Oder steht im Buch der Makkabäer, daß sie auch verschwinden mußten?«
»Nein.«
»Gut, also hat er sie herausgeholt. Und sie wurden von dem Priester aus dieser rabbinischen Legende, der dachte, daß es erhöhte Bodenplatten wären, gesehen. Sie wurden aufb ewahrt, und später haben sie im Allerheiligsten des zweiten und dritten Tempels gelegen. Es wäre doch auch zu albern, wenn es jahrhundertelang tatsächlich völlig leer gewesen wäre! Ein Hoherpriester, der jedes Jahr am Versöhnungstag feierlich durch den Vorhang hineingeht – und dann nichts? Ein leerer Würfel? Der Mann würde sich doch lächerlich machen. Als ob es Gott nicht gäbe. Dann hätte der Tempel durch die Jahrhunderte hindurch wie im Koma gelegen – wie Mama.«
»Was sagst du da für schreckliche Dinge, Quinten?« fragte Onno entsetzt.
»Nur als Beispiel. Laß mich jetzt ausreden, sonst verliere ich den Faden. Im Allerheiligsten lagen also immer die Tafeln mit den Zehn Geboten. Genauso wie vor dem Eingang des Vorhofs die beiden Pfeiler standen. Flavius Josephus hat sich von den Hohenpriestern einfach etwas weismachen lassen, als er schrieb, das Debir sei leer. Zusammen mit dem Vorhang wurden die Tafeln aus Jerusalem mitgenommen. Dann kam der Einzug in Rom. Gibt es darüber noch weitere Augenzeugenberichte?«
»Nein.«
»Und wie glaubhaft ist dieser Flavius Josephus?«
»Nicht sonderlich glaubwürdig.«
»Vielleicht hat er in dem Tumult und Gedränge nicht alles genau sehen können, aber nachher, als er darüber schrieb, hat er auch das verwendet, was er von anderen gehört hatte.
Und die sagten etwas Vages über ein ›jüdisches Gesetz‹, das am Ende des Umzugs mitgeführt worden sei; das waren Römer, und die hatten keine Ahnung von der jüdischen Religion. Aber er als Jude dachte sofort an die Thorarolle aus dem Tempel. Die Zehn Gebote fielen ihm natürlich nicht ein, denn für ihn waren sie zusammen mit der Bundeslade verschwunden. Vespasian dagegen war besser im Bilde. Gold hatte er im Überfluß, das bedeutete ihm schon längst nichts mehr. Er ließ nur das in den Palast bringen, was etwas mit dem Allerheiligsten zu tun hatte – und das waren der Vorhang und dieses sogenannte ›jüdische Gesetz‹ Eine Schriftrolle, die nur im Heiligen des Tempels verwendet wurde, gehörte nicht dazu; auch das wäre natürlich etwas Besonderes gewesen, aber eben nicht etwas Einzigartiges – du sagst selbst, so eine Rolle ist in jeder Synagoge zu finden. Nein, es war das ursprüngliche Manuskript des Dekalogs, von Moses auf dem Berg Horeb in der Sinaiwüste niedergeschrieben. Der Bildhauer des Brücken-reliefs war offenbar besser informiert.« Quinten warf seinem Vater einen kurzen Blick zu, dessen runde Augen ihn durch das Zimmer verfolgten. »Und dann passierte das, wovon ich dachte, daß es mit der Lade passiert sei. Konstantin bekehrte sich zum Christentum und schenkte die beiden Platten dem damaligen Papst, der sie in der Schatzkammer unter dem Hochaltar seiner Basilika verbarg. Daher der Name Sancta Sanctorum; Johannes Diaconus schrieb damals über die area foederis Domini , weil er zwar etwas läuten gehört hatte, aber keine Einzelheiten kannte. Er hatte unter dem Hochaltar seiner
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