Die Entdeckung des Himmels
Kirche nicht die Lade, dafür aber den Inhalt der Lade. Im dreizehnten Jahrhundert wurde die päpstliche Kapelle restauriert, und danach wurden auch die Gesetzestafeln des Moses dorthin gebracht, wodurch der Name Sancta Sanctorum auf die Kapelle überging. Und als Grisar 1905 den Altar öffnete, hat er die beiden flachen Steintafeln einfach übersehen, wie Pompejus, als er im Allerheiligsten war, und wie Flavius Josephus während des Umzugs in Rom, und wie jeder andere, der sich das Relief auf dem Titusbogen angesehen hat. Sie liegen also immer noch dort.«
Mit einem triumphierenden Schrei machte Quinten plötzlich einen Luftsprung und ließ sich rücklings auf seine Pritsche fallen, wo er ausgelassen mit den Beinen in der Luftstrampelte, plötzlich wieder stand, mit schwebenden Tanz-schritten zur Fensterbank ging, sich mit einem Drehsprung darauf setzte und Onno mit den Händen zwischen den Knien ansah.
Es dämmerte. Das Fenster stand offen, und Onno konnte nur Quintens schwarze Silhouette sehen, die sich gegen den purpurfarbenen Abendhimmel abzeichnete, an dem schon die ersten Sterne erschienen waren.
»Eine verführerische Beweisführung«, sagte er. »Ich mag solche Argumentationen. Ja, so könnte es gewesen sein. Aber vielleicht war es auch nicht so.«
»Und ob es so war!« Jetzt, da Quinten nur als Schatten zu sehen war, schien es, als klinge seine Stimme höher als sonst.
»Die Menschen, die seit Jahrhunderten im Sancta Sanctorum die Scala Santa hinaufk riechen, knien vor etwas ganz anderem nieder, als sie denken.«
Onno nickte wehmütig.
»Es ist, als hörte ich mich selbst, Quinten. Aber ich war mir auch einmal einer Hypothese absolut sicher – bis eines Tages jemand in Arezzo im Boden versank.«
»Daß deine Hypothese nicht stimmt, bedeutet ja wohl nicht, daß keine Hypothese stimmt!« sagte Quinten empört.
»Natürlich nicht. – Hör einfach nicht auf mich.«
»Dann setz etwas dagegen.«
»Ich glaube, es ist sehr viel dagegenzusetzen. Warum durften während des zweiten und dritten Tempels nur die Hohenpriester wissen, daß sich Moses’ Gesetzestafeln im Allerheiligsten befanden? Dieses Wissen hätte doch motivierend auf die Juden gewirkt?«
»Weil«, sagte Quinten sofort, »Jeremia eigentlich ein bißchen geschummelt hatte. Gott hatte ihn die Lade vergraben lassen und gesagt, daß keiner mehr daran denken dürfe. Über die Tafeln hatte er nichts gesagt, Jeremia hat sie eigenmächtig herausgenommen, und es ist natürlich die Frage, ob das im Sinne Gottes war. Sicherheitshalber ließen die Hohenpriester das unter die Schweigepflicht fallen.«
»Gut«, sagte Onno amüsiert. »Dann laß uns das mal zusammenfassen. Aufgrund einiger hebräischer, griechischer und lateinischer Texte hast du eine Theorie entwickelt, und wir nehmen an, diese Theorie ist konsistent. Aber es bleibt doch immer noch die große Frage, ob sie stimmt. Es ist ein Riesenschritt von der Literatur zur Wirklichkeit, Quinten.
Die Theorie kann nur überprüft werden, indem man im Altar nachschaut. Und das ist nur mit der Zustimmung des Papstes möglich, wie ich von Grisar weiß. Die Erlaubnis bekommst du natürlich nie – nicht, weil du es bist, sondern weil sie aufgrund deiner Theorie niemand bekommen würde. Angenommen, du schreibst dem Papst, was du entdeckt hast.
Er bekommt viele merkwürdige Briefe, die er nie zu sehen kriegt, die Verrückten dieser Welt schreiben ständig Briefe an den Papst; aber über Kardinal Simonis, den Erzbischof von Utrecht, dem ich einmal auf einem Galadiner im Palast Noordeinde gegenübergesessen habe und mit dem ich mich gut verstand, könnte ich sogar dafür sorgen, daß dein Brief auch tatsächlich auf seinem Schreibtisch landet. Gut.
Papa Wojtyla mit seinen schlauen Äuglein liest also deine Geschichte. Man könnte natürlich auch annehmen, daß er längst weiß, daß die Tafeln im Altar liegen. Über den Camerlengo – das ist der Kardinal-Schatzverwahrer, der in der Zeit zwischen zwei Päpsten das Sagen hat – müßten die Päpste das Geheimnis jeweils weitergegeben haben, wie früher die Hohenpriester. Nach deiner Theorie muß diese Kontinuität auf jeden Fall bis zum dreizehnten Jahrhundert bestanden haben, als die Gesetzestafeln aus der Basilika in die Kapelle gebracht wurden. Aber ich weiß sicher, daß der heutige Papst es nicht weiß, denn schon Anfang dieses Jahrhunderts wußte es Pius X. nicht mehr. Sonst hätte er Grisar niemals die Erlaubnis gegeben, den Altar zu öffnen, denn
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