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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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aufh ören muß. Du zeigst so langsam alle Anzeichen einer Obsession. Hör zu, ich kenne die Aufregung und die Spannung einer neuen Theorie genau, vor allem, wenn man sie selbst entwickelt hat; dazu brauche auch ich keine Fußballspiele und keine Kriege. Aber jetzt drohst du eine Grenze zu überschreiten, und das könnte durchaus fatal enden – und zwar im Gefängnis. Und ich glaube, daß ich dir die italienischen Gefängnisse nicht empfehlen kann.«
    Da es Quinten langsam am Rücken kalt wurde, stieg er von der Fensterbank herunter und schloß das Fenster.
    »Sind die Zehn Gebote das Risiko, ins Gefängnis zu wandern, nicht wert?«
    »Ja!« rief Onno und hob beide Arme hoch. »Wenn du so fragst – natürlich! Lebenslänglich! Der Scheiterhaufen!«
    Quinten lachte.
    »Sei mal ehrlich, Papa. Meinst du, daß es eine Schnapsidee ist?«
    »Ich weiß es nicht«, seufzte Onno. »Mir fällt nur gerade wieder eine Anekdote über Niels Bohr ein. Als jemand einmal eine neue physikalische Theorie entwickelt hatte, sagte Bohr:
    ›Ihre Theorie ist wahnsinnig, aber nicht wahnsinnig genug, um wahr zu sein.‹« Ironisch sah er Quinten an. »Was das anbelangt, ist deine ausgezeichnet.«
    »Also ist sie mit ziemlicher Sicherheit wahr.«
    »Also ist sie mit ziemlicher Sicherheit wahr. Credo quia absurdum.«
    Onno spürte, daß er wieder an Boden verlor. Er stand auf und begann in seinen verschlissenen braunen Pantoffeln mit den schiefgetretenen Absätzen ohne Stock im Zimmer auf und ab zu gehen; beim Umdrehen suchte er jedesmal kurz einen Halt. Wie sollte er damit um Himmels willen umgehen? Wenn es um das Gold der Romanows gegangen wäre, oder um den Schatz im Silbersee – aber die Gesetzestafeln!
    Wußte Quinten eigentlich, wovon er sprach? Gott gab es nicht, und Moses hatte es vielleicht auch nie gegeben, aber es gab die Zehn Gebote: daran war nicht zu rütteln. Andererseits schien es, als ob der Dekalog – das Fundament aller Moral – einerseits in Gott und andererseits in Moses Gestalt annahm, und dazwischen dann auch noch in den Gesetzestafeln. War es vielleicht so, daß primär nicht die Dinge existierten, sondern die Beziehungen zwischen den Dingen? Schuf etwa die Liebe Verliebte, und nicht umgekehrt? Konnte folglich auch die Liebe selbst die Gestalt eines Steines, oder zweier Steine, annehmen?
    »Woran denkst du?«
    Onno blieb stehen und suchte nach Worten. Quinten sah ihm zu, eine Hälfte des Gesichts lag im Schatten, den das Kerzenlicht warf. Die Ruhe, die der Junge ausstrahlte, machte ihn plötzlich wütend.
    »Verdammt noch mal, Quinten, du bist wohl nicht bei Trost! Was hast du bloß für Flausen im Kopf! Wie stellst du dir das vor? Wie, bitte schön, willst du in die Kapelle hineinkommen? Und wie in den Altar? Willst du vielleicht die Gitter durchsägen? Lies Grisar! Im sechzehnten Jahrhundert gab es den Sacco di Roma, damals wurde die Kapelle von französischen Truppen geplündert, aber sie kamen nur hinein, weil sie die Patres dazu zwangen, die Tür aufzuschließen. Aber von dem Altar hatten sie keine Schlüssel, und deshalb kamen sie schlicht und ergreifend nicht dran. Sonst wären die Gold- und Silberschätze 1905 nicht mehr dagewesen. Aber du willst das alles schaffen! Ohne daß es jemand merkt!«
    »Ja.«
    »Wie denn?«
    »Indem ich die Schlösser öffne.«
    »Und das kannst du?«
    »Ja.«
    »Ohne Schlüssel?«
    »Ja.«
    »Während es überall vor Patres nur so wimmelt und die Treppe voller Menschen ist?«
    »Aber doch nicht nachts! Wir lassen uns natürlich einsperren.«
    »Wir? Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, daß ich bei einem derart wahnsinnigen Unternehmen mitmache?«
    »Doch. Ich hoffe es.«
    »Es ist bestimmt alles elektronisch abgesichert!«
    »Ist es nicht.«
    »Woher weißt du das?«
    »Das habe ich überprüft.«
    »Und weißt du vielleicht zufällig auch, wie das achte der Zehn Gebote lautet?«
    »Nein.«
    »Du sollst nicht stehlen.«
    »Für mich ist das kein Stehlen.«
    »Was ist es dann?«
    »Eine Beschlagnahmung.«
    »Eine Beschlagnahmung – wie kommst du um Himmels willen bloß auf solche Gedanken!« Ratlos machte Onno eine halbe Drehung um die eigene Achse und flehte: »Quinten, mach mich nicht unglücklich. Als ich dich vor zehn Tagen beim Pantheon sah, lebte ich wie eine Art Lazarus im Grab eines anderen, um mich einmal so auszudrücken. Der einzige, mit dem ich in dieser ganzen Zeit gesprochen habe, war der brave Edgar. Du hast mich aus meiner Verzweiflung gerissen, und dafür bin

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