Die Entdeckung des Himmels
und sie saß dazwischen wie bestellt und nicht abgeholt. Sie fanden sie mit Sicherheit spießig, und da mit hatten sie wohl recht, sie war ihnen unterlegen: gleich würde sie einen Handkuß bekommen, einen blitzenden Aphorismus zum Nachdenken, und dann auf Wiedersehen … Plötzlich begannen ihre Augen zu brennen, sie murmelte eine Entschuldigung und ging auf die Toilette.
Sie schloß die Tür ab und setzte sich aufs Klo. Was war nur mit ihr los? Sie kannte diesen Charmeur gerade zehn Minuten, und schon jetzt kamen ihr die Tränen bei der Vorstellung, ihn vielleicht nicht mehr wiederzusehen. Sie wußte nichts von ihm, außer daß er sich in musikalischen Dingen auskannte; sie hatte ihn noch nicht einmal fragen können, ob er vielleicht selbst in der Musikbranche tätig war. War sie etwa verliebt? Oder vielleicht nur überempfindlich, bekam sie ihre Regel? Jede Regel bedeutete: wieder kein Kind ; aber sie hatte ihre gerade erst gehabt. Was war es dann? Er war nicht hübsch und auch nicht häßlich, aber sehr ungewöhnlich. Vielleicht lag es an seinem Blick, mit dem er sie so direkt und ohne Umschweife angesehen hatte. Er war so unvermittelt in ihr Leben getreten wie eine Sternschnuppe, ein Meteorit in die Atmosphäre – er glühte aus, und dann durfte man sich etwas wünschen. Ihr Wunsch war, daß er nicht verglühen würde! Die Vorstellung, daß sie nachher nach Hause gehen mußte, zu ihrem Cello und ihren Eltern, und dann alles wieder so sein würde, wie es immer gewesen war, war ihr plötzlich unerträglich. Also schnell zurück, bevor die beiden verschwunden sein würden!
Nachdem sie aufgestanden war, stützte sich Max mit einer Hand auf den Sitz ihres Stuhls und sagte zu Onno: »Ich werde dich nicht fragen, was du von ihr hältst, weil du keine Ahnung davon hast.«
Mit einem Geräusch, als müßte er sich übergeben, sah Onno auf Max’ Hand auf dem warmen Sitz.
»Ich habe dich genau durchschaut, du Schwein.«
War es nur das? Oder vielleicht doch anders, als Onno oder er selbst dachten?
»Hast du dich schon einmal gefragt«, sagte er, »wie es kommt, daß man einen Stuhl, auf dem gerade jemand anders gesessen hat, als warm empfindet, aber nie den eigenen Stuhl, wenn man kurz aufgestanden ist?«
»Interessante Frage. Und woher kommt das?«
»Darüber gibt es sogar schon eine Veröffentlichung. Es kommt daher, daß jeder seine individuelle Wärme produziert. Wärme ist nicht gleich Wärme, wie man früher dachte, nicht einfach nur die Brownsche Bewegung unbeseelter Moleküle, sondern jeder gibt eine Wärme ab, die eine Funktion seiner unverwechselbaren Persönlichkeit ist. Und das ist beweisbar. Wenn wir jetzt aufstehen, und ich schaue in eine andere Richtung, und du vertauschst die Stühle oder auch nicht, dann werde ich dir trotzdem sagen können, welcher dein Stuhl war.«
»Wahnsinniger!« rief Onno. »Steh sofort auf!«
Max stand auf und wandte sich ab. Mißtrauisch beobachtet von Damen, die ihren Tee tranken, begann Onno mit den Stühlen zu rücken und irreführende Bewegungen zu machen.
»So«, sagte er nach kurzem Geschiebe mit einladender Geste, »setz dich. Welcher war mein Stuhl?«
Max deutete auf Ada, die zwischen den Tischen auf sie zukam.
»Wir müssen gehen, sonst ist keiner mehr da. Sternwarten sind nachts geschlossen. Gehst du mit?« fragte er sie.
»Wohin?«
»Das ist eine Überraschung.«
Während sie zwischen beiden über das Rapenburg spazierte, immer am Wasser der ehrwürdigen, akademischen Gracht entlang, kam sie mehr oder weniger dahinter, in wessen Gesellschaft sie sich befand, nicht zuletzt aufgrund der Rätsel und Wortspiele der beiden über Himmelstürmer und Enigmatiker. Beim Akademiegebäude bogen sie rechts ab und kamen in den Botanischen Garten, wo sie zuletzt als Kind mit ihrem Vater gewesen war. Als ob Max das gespürt hätte, nahm er ihre Hand. Es war Mai, viele Bäume und Sträucher waren schon grün, und die Nadelbäume in ihren exotischen Formen verwiesen melancholisch auf ihren tropischen Ursprung (wie Schwarze, die auch im Norden schwarz sind, jedoch ohne den tiefen Glanz der Haut, den sie in der afrikanischen Hitze haben). Die Schilder an jedem Baum und neben jeder Pflanze entlockten Onno die Bemerkung, sie befänden sich hier offenbar im Paradies, wo Adam seinen Auftrag zur Namensgebung ausgeführt habe.
»Der Mensch ist zum Gärtner wie geschaffen!« rief er mit ausladender Geste.
Am Ende des Gartens kam die Sternwarte in Sicht: ein zweistöckiges
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