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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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sich fast schon damit abgefunden, nie einen Gast in sich zu empfangen – und jetzt war sie plötzlich Gast und Gastgeberin zugleich bei jemandem, den sie noch nicht einmal einen halben Tag kannte. Was war es? Sein Duft? Die samtige Struktur seiner Haut?
    »Mach es dir bequem«, sagte Max, nachdem er die Vorhänge zugezogen und sich in einen grünen Sessel gesetzt hatte.
    Er war raffiniert. Die meisten Männer waren dumm und setzten sich auf die Couch, so daß sich später das Problem ergab, wie sie den Damenbesuch neben sich plazieren sollten.
    Sie hingegen hatte nun die Wahl zwischen dem zweiten Sessel und der Couch. Wenn sie sich in den Sessel setzen würde, würden sie beide auf merkwürdige Weise auf eine seltsam leere Couch schauen, und dann hätte sie zwar gezeigt, was sie im Grunde nicht wollte, daß sie ja ach so anständig war, aber auch, wo ihre Gedanken waren. Setzte sie sich dagegen auf die Couch, könnte das bedeuten, daß sie an absolut nichts Verwerfliches dachte, aber er konnte sich dann um so leichter mit seinem Fotoalbum oder seiner Briefmarkensammlung neben sie setzen. Anders als sein Freund Onno, der vermutlich keinen Sensus für derartige Dinge besaß, registrierte er das alles natürlich ganz genau. Sie war neugierig auf seine Verführungskünste; hoffentlich machte er sich nicht lächerlich.
    Mit schief gehaltenem Kopf sah sie sich kurz die umfangreiche, chronologisch geordnete Plattensammlung an und betrachtete eine Reproduktion von Magritte an der Wand: ein Mann, der in den Spiegel sah und sich selbst auf den Rücken blickte. Auf dem Flügel schlug sie ein a an, dann das hohe d und wieder das a , »Ein poetisches Thema«, nickte Max.
    »Schade, daß es auf der Tastatur kein m und kein x gibt. Die gibt es nur in den allerhöchsten Obertönen einer Stradivari.«
    »So siehst du dich selbst also«, sagte Ada und setzte sich auf die Couch.
    »Onno würde sagen: ich verkehre in den ultimen, metaphysischen Regionen des vollkommen Unkennbaren.«
    »Und was würdest du selbst sagen?«
    »Nichts.«
    Sie wurde getroffen von einer plötzlichen Veränderung in seinem Blick, der wirkte wie eine Brille, die beim Betreten eines warmen Zimmers beschlägt. Es war ihr nicht klar, was geschah, aber sie spürte, daß etwas berührt worden war, das vielleicht auch er selbst nicht ganz begriff. Sie beantwortete seinen Blick, und es entstand eine Stille im Zimmer; draußen ging der Wind, und in der Ferne erklang leise das dreitönige Signal eines Rettungswagens.
    »Sollen wir uns ausziehen«, fragte er, »und uns ins Bett legen?«
    Sie nickte.
    »Gut.«
    So einfach war das also. Nicht einmal ein Kuß war für die Einleitung nötig, und es war trotzdem nicht kalt und sachlich – ein Kuß wäre vielleicht sogar kälter und sachlicher gewesen: das Einfache war zugleich das Komplizierte. Sie erinnerte sich an ein Gedicht von Brecht, an eine Melodie von Eisler, über das Einfache, das schwer zu machen ist , eine Art Liebeslied an die Adresse des Kommunismus; jetzt ging es zwar nicht um den Kommunismus, aber vielleicht hing ein Liebeslied in der Luft.
    Max führte sie ins Badezimmer, legte einen weißen Bademantel über den Badewannenrand und schloß die Tür hinter sich. Es gab keine Fenster, durch das Lüftungsgitter in der Decke hörte sie den kräftigen Wind. Auch hier herrschte die bestimmte, aber nicht peinliche Ordnung, die ihr schon im Wohnzimmer aufgefallen war; die Fläschchen und Tiegel waren zwar nicht nach Größe geordnet, aber nach Art ihres Inhalts, alle Deckel waren an ihrem Platz, und die Zahnpastatube war keine überfahrene Schlange, sondern aufgerollt bis zum richtigen Punkt. Sie zog sich aus und stellte sich kurz vor den mannshohen Spiegel – und pries sich glücklich, nicht die Szenen sehen zu müssen, die sich früher zweifellos darin abgespielt hatten. Ihr schmaler Körper mit den kleinen Brüsten und die umgekehrte schwarze Pyramide, die sie so oft verunsichert betrachtet hatte, schienen sich jetzt gewandelt zu haben in etwas Geweihtes: es war jetzt auf einmal für etwas da, für das es auch gemacht war. Drinnen legte Max das Vorspiel von Tristan und Isolde auf, eine ziemlich schwermütige Wahl.
    Sie legte ihre rechte Hand auf das Herz und ihre linke auf den Bauch und bekam dabei ein Gefühl, als stünde sie in einer offenen Muschelschale.
    Als sie ins Zimmer trat, wurde sie von Wagners Grundmeere empfangen. Max lag im Bett; mit dem Kopf auf den verschränkten Armen lächelte er ihr

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