Die Entdeckung des Himmels
ihre Mutter sagt: »Du kannst nicht nach oben, Papa streicht gerade dein Zimmer.« – Ärgerlich nimmt Ada den Fuß von der unteren Stufe.
»Was ist denn das schon wieder für ein Blödsinn? Habe ich ihn vielleicht darum gebeten?«
»Sei doch nicht immer so harsch, er tut es schließlich für dich. Setz dich halt solange unten hin. In einer Stunde ist er fertig.«
»Wie kommt er so plötzlich dazu, mein Zimmer zu streichen? Hat er nichts Besseres zu tun?«
»Das mußt du ihn fragen, das weiß ich auch nicht. Er ist nach oben gegangen und meinte, daß dein Zimmer dringend etwas Farbe bräuchte.«
»Verrückt ist lästig«, sagt Ada und schleppt ihr Instrument ins hintere Zimmer, in dem sie essen und wohnen.
Sie wird froh sein, wenn sie hier weg ist und ihr eigenes Leben leben kann. Das schlimmste sind die guten Absichten, sie machen einen machtlos. Ihre Mutter ist eine Fuchtel, aber ihr Vater ein braver Freidenker, der niemandem etwas zuleide tut.
Wenn etwas Böses in ihm wäre, würde er das Böse immerhin verstehen. Seine Frau beispielsweise. Ihr größter Wunsch sind jetzt eigene vier Wände, in die sie sich vollkommen zurückziehen kann. Sie will üben, reisen, auftreten, Triumphe feiern, aber dann immer wieder in ihr Appartement zurückkehren, Türklingel und Telefon abstellen, Radio und Fernseher nicht anstellen oder nicht einmal in der Wohnung haben und sich ganz und gar der Musik und dem Lesen von Poesie hingeben oder einfach stundenlang nichts tun und nachdenken, ohne daß jemand plötzlich unbedingt ihr Zimmer streichen muß. Aber vorläufig hat sie dazu nicht das Geld; auch ihr Vater kommt gerade so mit seinem Geld aus.
Sie schreckt hoch, als ihre Mutter Tee und eine Scheibe Kuchen für sie hinstellt.
»Woran denkst du, Ada?«
»An gar nichts.«
»Wie war es mit Bruno?«
»Gut.« Verärgert merkt sie, daß ihre Mutter sie fortwährend ansieht. »Was ist?«
»Warum gehst du nicht einmal mit ihm aus? Er ist so ein netter Junge.«
»Also, halt dich bitte da heraus. Gehst du vielleicht mit Papa aus?«
»Trotzdem brauchst du nicht gleich so gereizt zu sein. Es täte dir sicher gut, einmal auszuspannen.«
»Laß das mal meine Sorge sein.«
Sobald ihre Mutter aus dem Zimmer gegangen ist, schlägt sie die Partitur auf und studiert mit einem Bleistift in der Hand die Noten. Sie hält die Blätter kurz verkehrt herum, und auch dann sieht sie, daß es ein wunderbares Stück ist. Es ist nicht nur so, daß sie »hört«, was sie sieht, sie sieht eher, was der Zuhörer sieht, wenn er lauscht: eine strukturelle Schönheit, die als Partiturblatt im Raum existiert, als gehörte Musik nur der Zeit. Deshalb mag sie Romane nicht besonders, sie werden in aller Stille gelesen, im Gegensatz zu Gedichten, die auch einen Klang bekommen, weil sie klingen müssen. Nicht, daß sie dies alles Wort für Wort denkt; aber alles, was sich in ihrem Kopf abspielt, während sie die Noten betrachtet und ab und zu mit der Linken den imaginären Takt schlägt, beruht darauf – wie bei einem Kind, das sprechen kann, ohne die Grammatik zu kennen.
Sie legt die Partitur auf den Boden, hebt das Violoncello aus dem Kasten und schraubt den Fuß an. Während sie den Bogen spannt, geht sie zur Tür und schiebt sie mit der Schulter auf; in dem kleinen Raum fühlt sie sich beengt. Sie nimmt das Instrument zwischen die Beine, stimmt es, und mit den Augen seitwärts auf die Noten gerichtet beginnt sie zu spielen, während sie zugleich hört, was Bruno jetzt nicht spielt, und hier und dort mitsummt.
Max öffnete die Ladentür, und ohne die Klinke loszulassen, stockte er. Lauschend hob er einen Zeigefinger.
»Janáček«, sagte er nach einigen Sekunden. »Das ist keine Platte. Da spielt jemand.«
Eine Klingel war nicht zu hören. Er legte seinen Finger auf die Lippen, und sie gingen leise hinein. Der Klang des Cellos hing in dem schmalen Raum, der von Büchern überquoll. Sie füllten nicht nur die roh gezimmerten Regale bis zur Decke, sondern standen auch links und rechts und in der Mitte in hohen Türmen – ein Gestrüpp aus Büchern, mit schmalen Pfaden dazwischen. Onno blieb stehen, aber Max arbeitete sich weiter vor, Stufen hinauf, Stufen hinunter, vorbei an Stapeln, Kartons, Zeitschriften, Architektur , Mädchenbücher , Judaika , Reiseführer , um eine Ecke herum, wieder einige Stufen hinauf – und sah Ada im Hinterzimmer sitzen: in einer weiten, weißen Bluse mit breiten Manschetten und einem kleinen Stehkragen, mit
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