Die Entdeckung des Himmels
Ledertuch am Boden aus, in dem zehn bis zwölf lange Stahlstifte verschiedener Größe lagen und ölig glänzten. Mit der Taschenlampe auf der niedrigsten Helligkeitsstufe leuchtete ihm Onno. Zu Hause hatte er Quinten bei seinen Vorbereitungen zugesehen, und die waren ihm so lächerlich vorgekommen, daß er es zu peinlich gefunden hätte, sich genauer danach zu erkundigen – aber was er jetzt sah, erfüllte ihn mit Bestürzung. Quinten steckte einen Gummihammer in den Gürtel und suchte sich wie ein professioneller Einbrecher eine Handvoll Stifte zusammen, die in das H-förmige Schlüsselloch paßten. Mit dem Ohr an der Tür schob er sie langsam in das kolossale Schloß und wandte seinen Blick ab, um sich vollkommen auf das zu konzentrieren, was seine Hände mit den Stiften ertasteten. Plötzlich erinnerte sich Onno an etwas aus seiner frühen Jugend, noch vor dem Krieg: an den Fotografen am Strand von Scheveningen. Nachdem er hinter seinem Dreifuß gestanden und den Deckel von der Linse genommen hatte, steckte er die Arme in zwei schwarze Ärmel, die von seinem Apparat herunterhingen, und verrichtete im Innern geheimnisvolle Dinge, die das Tageslicht scheuten, wobei er seine Augen ebenso blind auf den Horizont richtete wie Quinten jetzt die seinen auf die unsichtbaren Deckenmalereien. Während er in seinen Bewegungen immer ruhiger und genauer wurde, schloß er die Augen und öffnete zugleich leicht die Lippen. Schließlich zog er den Hammer aus dem Hosengürtel, konzentrierte sich nun ganz genau auf jeden Handgriff und gab einen kurzen, dumpfen Schlag auf die Stifte. Mit einem Lächeln sah er zu seinem Vater auf und zog vorsichtig den schweren Bügel aus dem Gehäuse und den Türringen.
»Nummer eins«, flüsterte er.
Mit offenem Mund sah Onno ihn an. Quinten hatte ihm zwar von Piet Keller, dem Schlosser auf Groot Rechteren erzählt, den er als kleiner Junge oft besucht hatte, aber es war ihm ausgeschlossen erschienen, daß das nach so vielen Jahren zu dem führen konnte, was er jetzt sah: zu einem geöffneten Schloß. Als Quinten sich sofort das untere Schloß vornahm, wurde Onno klar, daß nun alles schlagartig viel gefährlicher geworden war. Wenn sie vor oder nach dem Knacken der Schlösser entdeckt würden, hätten sie noch behaupten können, daß sie als fromme Pilger die Nacht in der Nähe des Acheiropoèton hätten verbringen wollen; er war davon überzeugt gewesen, daß sie, nach einigem vergeblichen Hantieren am Schloß, nicht weiter als bis zur Kapelle des heiligen Lorenz gekommen wären. Aber mittlerweile war das erste Schloß geknackt und im zweiten steckten bereits die Stifte. Onnos anfängliche Leichtfertigkeit war wie weggeblasen – doch in diesem Stadium war Quinten natürlich erst recht nicht mehr von seinem Entschluß abzubringen. Die einzige Möglichkeit, das Ganze noch zu beenden, war, jetzt gleich zur Tür des Konvents zu laufen, mit dem Stock daranzuschlagen und die Patres aus dem vierten Kellergeschoß ihres Schlafes Zu trommeln. Aber dann hätte er seinen Sohn endgültig verloren.
Als auch das zweite Schloß mit einem Klick seinen Meister erkannt hatte, war noch immer alles ruhig. Quinten sah auf die Uhr: sieben Minuten vor halb elf. In der Bronze des rechten Türflügels befanden sich an unverständlichen Stellen jedoch auch einige Schlüssellöcher, doch er hatte bei Grisar gelesen, die Tür sei ursprünglich römisch, und hoffte, daß es funktionslose Relikte aus jener Zeit waren. Behutsam drückte er gegen den linken Türflügel, er gab sofort nach – Die Mitte der Welt!
Er nahm seinen Rucksack, Onno leuchtete ihm und trat über die Schwelle. Am liebsten hätte er es feierlicher getan, langsam, schreitend wie ein Pontifex maximus, aber jetzt, da es soweit war, hatte er es plötzlich eilig: Ihm blieben noch zwölf Minuten für den ersten Teil der Operation. Ging es vielleicht immer so? Verbarg sich die eigentliche Arbeit in den Vorbereitungen, und war die tatsächliche Leistung kaum mehr als eine Zugabe? Während er durch einen Gang von etwa vier Metern Länge kam, der in die Kapelle mündete, fiel ihm ein chinesisches Märchen ein, das Max ihm einmal erzählt hatte: Der Kaiser hatte einem Zeichner den Auftrag erteilt, einen Hahn zu zeichnen, woraufh in dieser ihn wissen ließ, er brauche dafür zehn Jahre; nachdem er zehn Jahre auf Kosten des Kaisers gelebt und jeden Tag tausend Hähne gezeichnet hatte, ging er wieder in den Palast; als der Kaiser sich erkundigte, ob er die
Weitere Kostenlose Bücher