Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
Vom Netzwerk:
gemerkt hat. Aber dann verändert es sich. Die Wand, die etwa fünfunddreißig Zentimeter von ihm entfernt ist, wird allmählich durchsichtig, so wie er das einmal mit Max und Sophia beim Holland Festival gesehen hat, bei einer Oper von Mozart, Die Zauberflöte , als ein von vorne beleuchtetes transparentes Tuch, das die gesamte Bühne einnahm, langsam von hinten beleuchtet wurde, wodurch sich allmählich ein enormer Raum mit perspektivischen Dekors à la Bibiena entfaltete –.
    Auch Onno war nicht mehr in den Beichtstuhl zurückgegangen; mit Quinten auf der einen und dem Stock auf der anderen Seite starrte er in das Dunkel und lauschte mit gestreckten Beinen und im Nacken verschränkten Händen den Geräuschen. Ein leises Summen umgab das Gebäude, der Samstagabendverkehr, weit entfernt hörte er die Sirene eines Krankenwagens oder eines Polizeiautos. Die Römer gingen aus. Die Restaurants und Cafés und Theater waren voll, rundherum pulsierte die Stadt – und sie saßen hier, machten Pause in ihrem metaphysischen Commando Raid auf der Jagd nach den Gesetzestafeln, die nicht nur keinen mehr interessierten, sondern von denen die meisten Menschen im Leben nicht gehört hatten. Er sah zu Quinten, der tief atmete und nun seinerseits in die vierte Schlafphase hinabsank, während die Passionisten-Patres langsam in traumreichere Regionen aufstiegen. Onno seufzte tief. Er würde das Geräusch der klickenden Schlösser sein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen. Wenn jemand irgendwann einmal behaupten würde, dies oder jenes sei unmöglich, er würde dieses Klick! hören und ihm frei ins Gesicht lachen.
    Ab und zu nickte er minutenlang ein. Im Konvent wurde eine Toilettenspülung betätigt, es war kurz nach elf, es schien, als ob die Schlafphasentheorie wahr wäre. Er dachte an die rigide Art und Weise, wie Quinten sein Schema bis auf die Minute genau darauf abgestimmt hatte, als ginge es dabei um Mathematik und nicht um Psychologie. Von wem hatte er diese Exaktheit? Von ihm jedenfalls nicht. Er war zutiefst davon überzeugt, daß außer der Mathematik gar nichts stimmte, und sogar dort, im Herzen der Mathematik, schien etwas nicht ganz in Ordnung zu sein. Alles war immer nur ein großes Durcheinander. Vielleicht hatte Quinten diesen beeindruckenden Hang zum Exakten von Ada, aus der Musik, die ja in gewisser Weise hörbare Mathematik war. Nur ließen seine technischen Triumphe über all die Schlösser seine Erwartungen natürlich noch größer werden: um so härter würde ihn nachher die Enttäuschung treffen. Nichts da mit Gesetzestafeln im Altar. Leere. Staub. Vielleicht ein kurzer Brief von Grisar, mit schönen Grüßen aus dem Jahr 1905 –.
    Quinten schlug die Augen auf, ließ die Daumen knacken und setzte sich auf. Zehn nach halb zwölf. Von draußen war das Stampfen lauter Musik zu hören, die aus einem parkenden Auto mit geöffneter Tür zu kommen schien. Sein Vater schlief auf der nächsten Bank; vornübergebeugt und den Kopf auf den verschränkten Armen atmete er tief röchelnd durch den Mund. Quinten rüttelte ihn an der Schulter.
    »Aufwachen!«
    Stöhnend richtete sich Onno auf.
    »Sind wir noch immer hier?«
    Kurz darauf stolperte er mit einem Gefühl hinter Quinten her, erst jetzt zu träumen. An der Tür drehte sich Quinten um und flüsterte:
    »Hast du den Koffer dabei?«
    Den Koffer! Ohne ein Wort ging Onno zum Beichtstuhl, um ihn zu holen. Quinten hatte inzwischen das Schloß von der Eingangstür entfernt, und in der Kapelle hatte das Öl seine Arbeit getan: Geräuschlos öffneten sich die Gittertore des Altars.
    Nun wurden zwei Bronzetüren sichtbar, die auf der oberen Hälfte Bilder von Petrus und Paulus zeigten. Auch an diesen Türen befand sich wieder ein Schloß mit einem schweren Bügel. Zum ersten Mal konnte Quinten es genauer untersuchen.
    Es schien ein ausgefallenes Exemplar zu sein, aber zu seiner Erleichterung sah er, daß es ein klassisches Schlüsselschloß war. Als es keinem seiner Dietriche gehorchte, suchte er aus dem Rucksack einen Sperrhaken heraus und steckte ihn ins Schlüsselloch. Nach einigem Probieren drückte er damit auf den Rastenhaken, so daß der Schlußstift gegen die Rahmenzungen der Rasten gedrückt wurde; dann hob er mit einem zweiten Haken behutsam die Rasten, bis der Stift in die Verbindungsrillen trat und der Schaft zu verschieben war. Er zog den Bügel nach vorne aus dem Schloß und aus den vier Bronzeringen heraus und legte ihn neben die drei anderen auf die

Weitere Kostenlose Bücher