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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Stufe.
    »Das wär’s«, flüsterte er und sah auf die Uhr. »Noch zwei Minuten. Auf geht’s.«
    Mit beiden Händen zog er die Türen auf.
    Aus der Abbildung im Buch von Grisar erkannte auch Onno den gemusterten Reliquienschrein aus Zypressenholz sofort wieder. Obwohl er mehr als elfh undert Jahre alt war, sah er so neu aus, als sei er erst vor kurzem vom Schreiner geliefert worden. Auf der oberen Zierleiste war auf lateinisch vermerkt, der Schrank stamme von Leo III. unwürdiger Diener Gottes, doch der Text wurde von einem Holzschild unterbrochen, auf dem in goldenen Buchstaben stand:
    SCA
SCO RV
    Eine reichlich legasthenische Abkürzung von Sancta Sanctorum. Wie man sehen konnte, war die Aufschrift später angebracht worden: als die Reliquien aus der Lateranbasilika hierhergebracht worden waren und die Kapelle ihren Namen bekommen hatte.
    Weil sich die Gesetzestafeln von diesem Zeitpunkt an in dem Schrein befunden hatten? Onno sah Quinten an. Quinten untersuchte die vier viereckigen, mit Ornamenten geschmückten Türchen, die wie Gepäckschließfächer am Bahnhof aussahen. Jedes Türchen hatte einen Ring, um es zu öffnen. Alles war auch hier wieder mit Schlössern gesichert, aber er sah sofort, daß sie nicht verriegelt waren. Er schürzte die Lippen und zog die linke obere Tür auf. Der Silberbeschlag des Acheiropoèton auf dem Altar funkelte, als Onno mit seiner Taschenlampe hineinleuchtete. Das Fach war leer. Quinten zog die rechte Tür auf: leer. Die linke untere Tür, die rechte untere Tür: alles leer.
    Quinten sah auf die Uhr. Fünf vor zwölf. Er stand auf und sagte:
    »Wir müssen gehen.«
    Als er Anstalten machte, die Kapelle zu verlassen, flüsterte Onno:
    »Willst du nicht aufräumen? Wir können das doch nicht so zurücklassen!«
    »In einer halben Stunde kommen wir wieder.«
    Onno erstarrte.
    »Wozu? Quinten! Sie sind nicht da! Du hast dich geirrt. Bisher ist alles gutgegangen, aber laß uns jetzt Schluß machen.«
    Quinten legte einen Finger auf die Lippen, und Onno wurde abermals klar, daß er nichts weiter vorzubringen hatte.

    Als sie zum zweiten Mal in der Kapelle des heiligen Lorenz wieder im Dunkeln nebeneinander auf einer Bank lagen, dachte Onno an die Unordnung, die sie angerichtet hatten: geknackte Schlösser, offenstehende Türen, herumliegendes Werkzeug. Angenommen, ein schlafloser Passionist würde sein Brevier zur Hand nehmen, betend durch das Gebäude gehen und dann das Chaos im Heiligtum sehen! Aber mehr noch quälte ihn die Frage, wie er Quinten dann Beistand leisten konnte. Aus Gründen, die ihm ein Rätsel waren, hatte der Junge so viel Kraft in dieses Abenteuer investiert, daß er offenbar nicht akzeptieren konnte, daß alles umsonst gewesen war.
    Wie konnte er ihm beibringen, daß das nun mal so war im Leben? Wenn man siebzehn war, glaubte man, die Welt bestehe aus derselben Substanz wie die eigenen Theorien, so daß man jederzeit Zugriff auf sie hatte und sie den eigenen Vorstellungen entsprechend formen konnte. Aber jeder bekam eines Tages die bittere Wahrheit zu spüren, daß es so nicht funktionierte; die Welt war die Suppe und das Denken meistens eine Gabel: zu einer sättigenden Mahlzeit führte das selten. Heute jedenfalls hatte auch für Quinten die Stunde der Einsicht geschlagen – auf eine andere Weise als für die meisten Jungen, fürwahr, aber es lief doch auf das gleiche hinaus.
    »Quinten?«
    »Ja?«
    »Was willst du jetzt noch?«
    »Noch einmal gründlich nachsehen.«
    »Wir haben doch gründlich nachgesehen.«
    »Aber immer noch nicht gründlicher als Grisar. Oder als Flavius Josephus.«
    Onno seufzte gelassen. Sofort biß er wieder auf Granit.
    Seine weisen Lektionen konnte er sich sparen; es war, als hätte der Vater Freuds seinen Sohn davon zu überzeugen versucht, daß es kein Unterbewußtsein gab, und es war noch nicht heraus, ob es eines gab. Zugleich war er aber auch nicht unzufrieden: Quinten hatte noch eine Art ungetrübtes Selbstvertrauen, das er selbst längst verloren hatte – wenn er es überhaupt jemals besessen hatte, und auch dessen war er sich nicht mehr ganz sicher. Es war sinnlos zu versuchen, ihn von seiner fixen Idee abzubringen, er mußte den Kelch tatsächlich bis zur Neige leeren. Außerdem würde er sonst für den Rest seines Lebens zu hören bekommen, daß die Tafeln vielleicht doch in diesem vermaledeiten Altar lagen.
    Indes stiegen die Patres auf ihren asketischen Pritschen für kurze Zeit auf in die zweite Schlafphase, um dann

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