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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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ist.«
    »Natürlich nicht.«
    »Ich habe nicht besonders gut geschlafen, wie du dir vielleicht vorstellen kannst, und ich habe versucht, mich in dich hineinzuversetzen – ich weiß, daß das unmöglich ist, aber warum sollte man nicht auch das Unmögliche versuchen –, und ich glaube, daß du sie genau dort hinbringen wirst, wo Titus sie seinerzeit abgeholt hat. Oder liege ich da falsch?«
    »Keine Ahnung«, sagte Quinten. Er hatte noch nicht darüber nachgedacht – es würde sich schon irgendwie ergeben –, aber vielleicht war das wirklich eine gute Idee.
    »Das wäre also die Stelle, an der der Tempel von Herodes gestanden hat.«
    »Aber«, ergänzte Quinten, »dann wohl da, wo das Allerheiligste gelegen hat.«
    Seufzend wischte Onno sich den Mund ab.
    »Natürlich, man kann nicht genau genug sein. Dann ist also wieder Lernen angesagt. Ich hätte nicht gedacht, daß ich deinetwegen soviel mitbekommen würde.« Mit einem unerträglich quietschenden Geräusch schob er den Stuhl zurück und stand auf. »Ob wir die Szenerie einmal in Augenschein nehmen sollten?«
    Quinten wunderte sich über die Initiative, die sein Vater plötzlich an den Tag legte. Es schien, als hätte er es eilig; vielleicht fand er es angebracht, nach dem, was jetzt in Rom ablief, allmählich einen Punkt hinter die ganze Angelegenheit zu setzen. Aber auch er war neugierig auf die Stelle, an der die Tempel gestanden hatten. Im Türrahmen zeigte Aron ihnen eine schmale Straße: immer geradeaus, dann kämen sie direkt zum Tempelberg Moriah, ein Spaziergang von zehn Minuten.
    Nach der kühlen Nacht nahm die Hitze wieder zu. Die überfüllte Straße, die mit trocknender Wäsche beflaggt war wie alle Gassen im Mittelmeerraum, war der Anfang vom Suk: eine ununterbrochene Reihe winziger Geschäfte mit Andenken, Töpferwaren, bunten Stoffen, glänzendem Zuckerwerk, undefinierbaren Werkstätten, Kupferschmieden, einem Friseur, aber vor allem schreienden Kaufleuten, die den Touristen ihre Ware aufzuschwatzen versuchten. Alle zehn Meter drängten sich Männer mit Kopftüchern als Fremdenführer auf; wenn sie hörten, woher sie kamen, riefen sie ausnahmslos auf niederländisch: »Allemachtig achtentachtig!«
    Onno blieb bei einem Laden mit Spazierstöcken mit primitiver Holzschnitzerei stehen.
    »Wenn ich diesen nähme –«, sagte er und zeigte auf einen Schlangenkopf. »Das wäre doch erst recht den Teufel versuchen.«
    »Damit wäre ich in Jerusalem lieber vorsichtig.«
    »Vierzig Schekel«, sagte der Händler und zog den Stock heraus.
    Da Onno alle Stöcke gleich häßlich fand, schüttelte er den Kopf und ging weiter. Aber der Mann folgte ihnen, und nach einigen Schritten war der Preis auf dreißig Schekel gesunken, dann auf fünfundzwanzig, auf zwanzig.
    »Wart’s ab«, sagte Onno, »gleich kriegen wir ihn umsonst.«
    »Wenn wir einfach weitergehen, werden wir automatisch Millionäre«, fügte Quinten hinzu und dachte kurz an den Hotelbesitzer, der keine Ahnung hatte, daß sich sein Safe vorübergehend in die Bundeslade verwandelt hatte und Saphir für eine Milliarde Gulden enthielt.
    Für zehn Schekel kaufte Onno einen schweren Stock mit unbearbeitetem Griff, fast einen Knüppel, den der Kaufmann ihm dienstbeflissen aus der Werkstatt holte. Erleichtert, wieder eine Stütze zu haben, ging er weiter. Der Spaziergang hatte nun schon eine Viertelstunde gedauert, aber ein Tempelberg war immer noch nicht zu sehen. Bald wurde die Straße von Bögen überspannt, und sie gelangten in den Schatten eines überfüllten, labyrinthischen Basars, in dem keine Rede mehr von geradeaus sein konnte. Als Quinten an einer Straßenecke nachsah, las er:
    »Via Dolorosa.«
    »Ach, das ist hier! Der Kreuzweg unseres Herrn und Heilands.« Mit dem Stock zeigte Onno auf ein Relief über einer Kirchentür. »Das ist die Stelle der vierten Station, wo Jesus seiner Mutter begegnete. Aber«, sagte er und sah sich nach links und rechts um, »das bedeutet, daß am Ende dieser Route Golgotha ist, auf dem dann die Grabeskirche gebaut wurde; und am Anfang muß Pilatus’ Burg Antonia stehen, wo die Heilige Treppe herstammt. Also müssen wir in diese Richtung, denn die Festung stand meines Wissens auch auf dem Tempelberg.«
    Im gleichen Moment zog ihn Quinten plötzlich am Arm in ein Schmuckgeschäft.
    »Was ist?«
    »Da ist Tante Trees.«
    Hinter einem Mann mit einem zusammengeklappten Sonnenschirm über dem Kopf ging sie inmitten einer Gruppe weißhaariger Damen vorbei, die sich

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