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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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unteren Reihen hatten sich von den Händen und Lippen, die über zwei Jahrtausende hinweg daraufgedrückt worden waren, braun verfärbt. Orthodoxe Juden in wadenlangen Hosen mit runden Hüten und Schläfenlocken verausgabten sich, während sie in Büchern lasen, in merkwürdig zuckenden Bewegungen wie Gliederpuppen; alte Männer mit grauen Bärten saßen, ebenfalls lesend, mit dem Gesicht zur Mauer auf Stühlen da. Als Quinten darauf zu achten begann, sah er, daß sich alles um das Lesen zu drehen schien.
    Die Ritzen zwischen den Steinen waren mit zahllosen zusammengefalteten Zetteln wie zuzementiert, auf denen Wünsche geschrieben standen.
    »So ist es«, sagte Onno, »du befindest dich hier in der Welt des Buches. Ich selbst stamme auch daraus. Vielleicht solltest du froh sein, daß dir das alles erspart geblieben ist, vielleicht aber auch nicht.«
    Hier und da standen Tische mit Büchern, in denen manchmal geblättert wurde; ab und zu nahm jemand ein Exemplar zur Mauer mit. Durch einen Steinbogen auf der linken Seite des Platzes machte Quinten einige Schritte in einen dunklen Raum, der ihn an seine Burg erinnerte und in dem noch viel mehr Bücher in Regalen standen. Plötzlich erschien aus dem Inneren eine kleine, ungeordnete Prozession: Männer in Gebetskleidung mit Tüchern über den Köpfen trugen eine aufgeklappte Holzkiste ins Licht. Sie enthielt zwei große Schriftrollen.
    »Da hast du es, das ›jüdische Gesetz‹«, sagte Onno mit ironischem Nachdruck und sah Quinten von der Seite an. »Das ist die Thora.«
    Quinten hörte den Unterton in seiner Stimme, ignorierte ihn aber. Die Rollen wurden unterwegs geküßt und berührt und dann zum Frauenareal gebracht, aus dem wieder diese hohen Trällerlaute aufstiegen. Es handelte sich um die Initiation eines etwa zwölfj ährigen Knaben; Männer mit weißen Kippas und schwarzen Bärten wickelten ein geheimnisvolles Band um seinen nackten linken Arm, und auf seiner Stirn wurde ein merkwürdiger, sience-fictionartiger Würfel befestigt, während ein patriarchalisch wirkender Rabbiner in einem goldfarbenen Talar aus der mitgebrachten Thora las. Ausgelassene Frauen und Mädchen warfen Bonbons über die Umzäunung.
    »Was befindet sich in dem Würfel?«
    »Text. Gebote.«
    Quinten war eifersüchtig. Ihm hatte man nie soviel Aufmerksamkeit gewidmet. Warum diesem Jungen und nicht ihm? Nur weil er jüdisch war, und er selbst nicht? Dafür hatte er ganz allein etwas entdeckt, von dem der Junge und all die Leute hier nie zu träumen gewagt hatten!
    »Wollen wir hinaufgehen?«
    Auf der rechten Seite der Mauer führte ein asphaltierter Weg in einem leichten Bogen nach oben; vorbei an einer endlosen Reihe fotografierender und filmender Touristen gelangten sie zu einem Tor, wo Polizisten mit Maschinenpistolen über der Schulter alle Taschen durchsuchten. Größeres Gepäck mußte zurückgelassen werden.
    »Siehst du, wie das hier läuft?« fragte Onno leise, während sie warteten, bis sie an der Reihe waren. »Auf allen Seiten steile Mauern mit schwerbewachten Toren. Unten ist der heiligste Ort der Juden, und hier oben ist seit mehr als tausend Jahren der dritte heilige Ort des Islam, wenn ich mich nicht irre, nach Mekka und Medina. Die Situation hier ist eine Art religiöse Atombombe: Wenn das aufeinanderprallt, wird die kritische Masse überschritten, und dann explodiert die ganze Welt. Die Israelis haben das vollkommen richtig verstanden, du wirst da nie durchkommen mit deinen Steinen, auch wenn niemand weiß, für was du sie in deinem grenzenlosen Optimismus hältst. Dieses sogenannte ›Zurückbringen‹ kannst du vergessen, denn hier hast du es nicht mit ein paar schläfrigen alten Patres aus Butter zu tun. Wenn du nicht Nebukadnezar oder Titus heißt, wirst du dir etwas anderes einfallen lassen müssen.«
    Ungeduldig zuckte Quinten die Schultern.
    »Ich werd’s schon sehen.«
    Er fühlte sich angespannt. Im Tor stand ein Tisch, an dem Frauen mit zu nackten Beinen knöchellange graue Röcke überziehen mußten; als er auf der anderen Seite aus dem Schatten des Torbogens trat, blieb er betroffen stehen und blickte über das ausgedehnte stille Tempelplateau. Die Atmosphäre der Abwesenheit erinnerte ihn für einen Moment an seine Wiese bei Groot Rechteren mit der rotbraunen Kuh, den beiden Erlen und den drei Findlingen. Hier waren nicht nur viel weniger Menschen als unten auf dem Platz, die Stille hatte auch einen merkwürdigen, wie abwartenden Charakter, wie die Sekunden,

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