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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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alle so ähnlich sahen wie ihre geblümten Kleider. Gebückt folgte ihr Onno mit den Augen. Er verspürte so etwas wie Rührung.
    »Die ist aber alt geworden«, sagte er leise, »dieser Hausdrachen.
    Aber immer noch so fromm. Sie steckt bestimmt gleich ihre Hand in das Loch, in dem das Kreuz Christi gestanden hat.«
    »Oder hättest du ihr begegnen wollen?« fragte Quinten. »Sie hätte dich jetzt mit Sicherheit auch erkannt.«
    »Ich weiß nicht so recht.« Stöhnend richtete er sich auf. »Ich habe keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen soll, aber ich kann auch nicht einfach weiterhin so tun, als wäre alles noch so wie früher. Dafür hast du gründlich gesorgt.«
    Untertänig hielt ihnen der Verkäufer eine – wahrscheinlich unechte – Silberkette mit einem kleinen Davidstern hin.
    Onno sah in die Augen des kleinen Arabers, der ein Kippa aus feiner weißer Spitze trug.
    »Das müssen wir wohl kaufen«, sagte er.
    Er bezahlte den unsinnig hohen Preis, der verlangt wurde, und legte Quinten die Kette um den Hals. Quinten fühlte kurz daran und fragte:
    »Darf man das denn tragen, wenn man kein Jude ist?«
    »Nur, wenn dein Vater es dir geschenkt hat. Das steht bestimmt irgendwo im Talmud.«
    Einige Häuser weiter kauften sie an einem Kiosk einen Stadtplan, der sie schnell auf den Weg zurück ins jüdische Viertel brachte. Der Übergang war an einer Art Grenze, die von Soldaten gebildet wurde, die auf beiden Seiten der Straße gelangweilt herumstanden. Als sie eine breite Treppe hinuntergingen, kamen sie kurz darauf wieder an einer Gruppe Soldaten vorbei; sie saßen auf Stühlen entspannt neben Funkgeräten mit langen Antennen im Schatten und hatten automatische Gewehre schußbereit auf dem Schoß.
    »Gott und die Gewalt«, sagte Onno, »so ist das hier seit viertausend Jahren.«
    Die Treppe machte einen rechten Winkel – und sie blieben stehen.
    Die Situation erinnerte Quinten einen Moment lang an Venedig, als er aus dem Wirrwarr der Gassen auf die Piazza San Marco kam. Dort herrschten die Kunst, die Schönheit, der Wind, das Meer und schwebende Leichtigkeit, aber das hier, das war etwas anderes: es war nicht schön, es war erschlagend. Er hatte das Gefühl, als sei die Szene, die er sah, nicht nur dort, wo sie war, sondern auch in ihm wie der Kern in einer Frucht – wie gestern im Flugzeug das Wort Testimonium.
    Heiß wie ein Ofen tat sich ein großer Platz vor ihnen auf: voller Stimmengesumm, Trommelschlagen und exotischer, hoher trällernder Laute; er wurde auf der gegenüberliegenden Seite von der massigen gelben Klagemauer abgeschlossen. Sie trennte nicht wie eine Stadtmauer zwei Gebiete, sondern hatte eher den Charakter einer Felswand. Über dem Gelände erstrahlten die goldene und die silberne Kuppel, die er bereits vom Taxi aus gesehen hatte, und von dort war auch das elektronisch verstärkte Jammern eines Muezzin zu hören. In dieser Stadt lagen die Religionen nicht nur nebeneinander, hier waren sie aufeinandergeschichtet.
    »Diese Mauer«, sagte Onno, »ist das einzige, was vom Tempelkomplex des Herodes übrig ist. Er hat dort oben auf dem Plateau gestanden. Soweit ich weiß, heißt sie nicht deswegen ›Klagemauer‹, weil dort seit Jahrhunderten die Judenverfolgungen beklagt werden, Auschwitz und die Gaskammern, sondern die Verwüstung des Tempels durch die Römer. Sie beten dort übrigens auch – das wird dich interessieren –«, er warf einen unbehaglichen Blick auf Quinten, »für seinen Wiederaufb au und die Rückkehr des Messias.«
    Quinten sah nach oben. Hier und da saß ein Soldat mit einem Gewehr auf der Mauer.
    »Wie kommen wir dorthin?«
    Schwindlig begann Onno die letzten Stufen hinabzugehen.
    »Jetzt, wo ich einmal in Jerusalem bin, möchte ich mich zuerst hier unten ein bißchen umsehen. Ist dir eigentlich klar, was dies alles für mich bedeutet? Meine ganze Jugend über ist mir dieser Hokuspokus eingetrichtert worden. Meine Schwester läuft hier auch nicht von ungefähr herum.«
    Die Stimmung am Fuß der Mauer war eher festlich als klagend. Sperrgitter reservierten einen Teil des Platzes für Männer und einen kleineren für Frauen; beim Eintreten in das Männerareal bekamen sie ein Kippa aus Papier – vielleicht in Gefängnissen von Palästinensern gefaltet – und mischten sich eine halbe Stunde lang ins religiöse Getümmel. Über die ganze Breite der Mauer, in deren Ritzen Unkraut wuchs, standen die Gläubigen mit dem Gesicht zu den kolossalen Steinblöcken. Die beiden

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