Die Entdeckung des Himmels
die zwischen Blitz und Donner verstrichen – oder war es nur die Erschöpfung an der Vergangenheit, an allem, was sich auf diesem Platz durch die Jahrhunderte hindurch an Religion, Mord und Verwüstung abgespielt hatte? Hundert Meter weiter lag nicht ganz in der Mitte auf einer erhöhten Terrasse eine breite Moschee in blendendblauen und – grünen Farben: ein achteckiger Unterbau, gekrönt von einer goldenen Kuppel, die wie eine zweite Sonne vom wolkenlosen Himmel eingefaßt war. Auf der Spitze obenauf eine Mondsichel. In den Zypressen und Olivenbäumen, die hier überall aus dem Schatten der Kuppel ragten, tschilpten die Vögel; eine Seite der Terrasse bot eine weite Aussicht auf einen bewachsenen, mit Kirchen, Klöstern, Kapellen und Friedhöfen bedeckten Hügel.
Quinten warf einen Blick auf den Stadtplan und zeigte auf den Hang.
»Das ist der Ölberg.«
»Mein Gott«, sagte Onno, »auch das noch. Du hattest recht: alles existiert wirklich.«
Zögernd kam ein alter magerer Herr auf sie zu, der einen grauen Anzug, weißes Hemd und eine Krawatte trug; auf seiner Wange war ein winziger Wattebausch. Er räusperte sich kurz hinter vorgehaltener Hand, als hätte er lange nicht gesprochen, und sagte dann mit heiserer Stimme auf englisch: »Mein Name ist Ibrahim, ich bin Dichter und wohne seit dreiundsechzig Jahren in Jerusalem. Mit mir erfahren Sie in einer Stunde mehr als ohne mich in einer Woche.«
Onno mußte lachen.
»Da wir keine Touristen sind, sind Sie genau derjenige, den wir brauchen.«
Ibrahim ging sofort an die Arbeit. Er drehte sich halb um und zeigte auf die große Moschee mit der silbernen Kuppel, in deren unmittelbaren Nähe sie sich befanden und die Quinten noch nicht aufgefallen war. Davor stand eine Gruppe arabischer Schulmädchen mit weißen Kopftüchern und mit Kleidern über ihren langen Hosen.
»Al-Aqsa«, sagte er.
»Entferntester Punkt‹«, nickte Onno.
Verdutzt sah Ibrahim ihn an.
»Das wissen Sie?«
»Aber nicht, weshalb es so heißt. Entferntester Punkt wovon? Vom anderen Ende der Welt?«
»Der entfernteste Punkt, den der Prophet jemals erreicht hat. Eines Nachts schlief er bei der Kaaba in Mekka –«
»Was ist das?« fragte Quinten Onno unwillkürlich.
»Der heiligste Ort des Islam, aber erheblich älter als der Islam selbst. Ein großer Würfel mit einem schwarzen Stein: vermutlich ein Meteorit.«
»– als ein Pferd mit dem Gesicht einer Frau und dem Schwanz eines Pfaus ihn blitzschnell nach Jerusalem brachte.
Unten an der Klagemauer band er es an und kam dann auf demselben Weg wie Sie hier herauf und unternahm seine nächtliche Reise zum Himmel.«
»Wir nehmen an, daß er das geträumt hat?« fragte Onno behutsam.
»Es gibt Gelehrte, die das annehmen«, nickte Ibrahim. »Es gibt aber auch Gelehrte, die annehmen, daß er zwar leiblich hierherkam, seine Himmelsreise jedoch eine Vision war.«
»Und Sie als Dichter, was nehmen Sie an?«
»Daß es natürlich keinen Unterschied zwischen Traum und Tat gibt«, sagte Ibrahim mit einem Lächeln. »Die Träume eines Dichters sind seine Taten.«
»Bravo, Herr Ibrahim!«
»Ist Mohammed genau von dieser Stelle aus aufgestiegen?«
fragte Quinten und deutete mit dem Kopf auf die Moschee.
Ibrahim zeigte auf das Gebäude mit der goldenen Kuppel.
»Von dieser Stelle. Nicht aufgestiegen übrigens, sondern geklettert, auf einer Leiter aus Licht. Und er ist dort auch wieder heruntergekommen, und ehe es Tag wurde, hatte al-Buraq ihn wieder nach Mekka gebracht.«
»Der Blitz?« fragte Onno. »Auf einem Pferd hin und auf dem Blitz wieder zurück?«
»So hieß das Pferd: der Blitz.« Ibrahim machte eine einladende Geste. »Sollen wir die Moschee besichtigen? Dieses gotische Portal ist vor neunhundert Jahren von Kreuzfahrern angebaut worden; sie haben vorübergehend eine Kirche daraus gemacht, die sie Templum Salomonis nannten.«
Quinten warf einen desinteressierten Blick auf die Spitzbögen.
»Und die jüdischen Tempel – wo haben die gestanden?«
Ibrahim zeigte wieder auf die goldene Kuppel.
»Dort.«
»Auch dort?« fragte Quinten mit hochgezogenen Augenbrauen.
Mit dunklen Augen sah Ibrahim ihn an und räusperte sich wieder.
»Dort ist alles.«
»Das ist viel, Herr Ibrahim«, sagte Onno.
»Sie wissen doch, was die Juden zu sagen pflegen: Juden übertreiben immer, Araber lügen immer – urteilen Sie selbst.
Die Moschee findet offenbar nicht Ihr Interesse.«
An einem tief eingelassenen Becken für rituelle Waschungen und
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