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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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»Jerusalem ist der jüdische Mittelpunkt der Welt«, sagte er und streckte den Arm aus, »aber schon von alters her war dieser Fels für die Juden die Mitte der Mitte.«
    »Die Mitte der Mitte?« wiederholte Quinten mit großen Augen.
    »Dieser Felsen«, sagte Ibrahim feierlich, »trug nicht nur die Tempel, den Juden zufolge ist er der Grundstein des gesamten Weltgebäudes. Hier hat die Schöpfung des Himmels und der Erde begonnen – von dieser Stelle aus wurde Licht.«
    Der Big Bang, dachte Onno, schade, daß Max den greifbaren Beweis dieser Theorie nicht mehr erleben durfte – die Religion als religiöse Hintergrundstrahlung … Beunruhigt warf er einen Blick auf Quinten. Irgend etwas brütete in diesem Kopf, aber was immer es auch sein mochte, er, Onno, hatte von dieser Art Kriminalistik genug.
    Ibrahim richtete sich jetzt nur noch an Quinten, vielleicht weil er den skeptischen Ausdruck auf Onnos Gesicht gesehen hatte.
    »In diesem Stein kommen Himmel, Hölle und Unterwelt zusammen. Solange Gott hier gedient wird, hält der Stein die vernichtenden Wasser der Unterwelt zurück, die in den Tagen Noahs losgebrochen sind.«
    »Aber es wird ihm hier doch gar nicht mehr gedient.«
    »Nicht in der Art der Juden.«
    Quinten seufzte tief. Jetzt stand absolut fest, daß hier das Allerheiligste gewesen war. Er war plötzlich noch einen Schritt weitergekommen als in die Mitte der Welt – er hatte seinen Traum eingeholt. Hier, in der Mitte der Mitte, hatte die Bundeslade gestanden, und später hatten auf diesem Felsen die Gesetzestafeln gelegen. Am liebsten wäre er hinaufgeklettert, um nachzusehen, ob Jeremia irgendwo eine Aussparung gemacht hatte, um sie dort hineinzulegen. Und im selben Augenblick sah er die Stelle, ganz nah, am Rande des Felsens, wo die weiße Frau betete: eine rechteckige Vertiefung von zwanzig auf fünfzig Zentimeter, in die die Tafeln genau hineinpaßten.
    Ibrahim sah, wie er die Stelle fixierte:
    »Das ist der Fußabdruck von Idris, dem biblischen Henoch.«
    »Papa –«, sagte Quinten und zeigte darauf, ohne etwas zu sagen.
    Onno hatte sofort begriffen und verdrehte verzweifelt die Augen.
    »Wann hörst du endlich einmal auf mit diesem himmelschreienden Unsinn, Quinten? Haben wir uns nicht schon genug Schwierigkeiten aufgehalst?« Plötzlich wurde er wütend.
    »Sieh doch endlich ein, daß du nur ollen Trödel aus Rom mitgebracht hast, ein Paar alte Dachziegel, und diese Vertiefung ist eher noch der Fußabdruck von Henoch als das, wofür du es jetzt hältst. Schuhgröße achtundachtzig!«
    »Vielleicht ist es beides.«
    »Quatsch, Quatsch, totaler Quatsch! Und jetzt will ich sofort weg hier, ich habe es satt. Wir gehen«, sagte er zu Ibrahim.
    »Möchten Sie nicht auch noch die Höhle, die Quelle der Seelen –«
    »Wir gehen.«
    Onnos Ausfall ließ Quinten kalt. Er hatte die Gesetzestafeln in seinem Besitz, und sie hatten jahrhundertelang in diesem Loch gelegen, in der absoluten Finsternis des Debir, vollkommen unauffällig, ganz an der Seite. Als sie durch das östliche Portal hinaus in die Hitze und das blendende Licht auf den weißen Marmorplatten der Tempelterrasse traten, sagte er: »Ich habe wirklich nicht vor, sie dorthin zurückzulegen.«
    »Das würde dir auch nicht gelingen.«
    »Das weiß ich nicht, aber dann würden sie am nächsten Tag von den Arabern gefunden, und das wäre vielleicht eine noch größere Katastrophe, als wenn sie die Juden in die Hände bekämen.«
    »Es ist deine Sache, was du damit machst, ich will auf jeden Fall kein Wort mehr davon hören. Und ich wäre an deiner Stelle vorsichtig. Wenn du gerne von vor Wut schäumenden Muselmanen ermordet werden willst, dann mußt du hier etwas unternehmen. Du spielst mit dem Feuer, mein Freund!«
    Ibrahim, der sich höflich im Hintergrund gehalten hatte, nahm seine Tätigkeit wieder auf und zeigte auf eine kleine silberne Kuppel, die unmittelbar vor dem Portal stand und von Gerüsten und einem Bretterzaun umgeben war. Das sei der Kettendom, so benannt nach einer Silberkette, die König David dort hineingehängt habe: ein Geschenk des Engels Gabriel; wenn man lüge, während man sie festhalte, falle ein Glied herunter. Onno hörte nicht mehr zu. Es interessierte ihn nicht mehr, aber Quinten warf einen kurzen Blick durch einen Spalt hinein. Der übernatürliche Lügendetektor war eine Miniaturausgabe des Felsendoms, jedoch rundum offen; der Boden war mit Scherben, kaputten Steinen, Felsbrocken, Werkzeug, zerdellten Dosen,

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