Die Entdeckung des Himmels
allmählich krank. Es wird übrigens viel zu heiß. Was würdest du davon halten, wenn wir den Bus nehmen und im Westen, in der Neustadt, etwas trinken? Dort kann uns nichts passieren, glaube ich.« Er drehte sich um. »Wo ist unser Dichter geblieben? Wir müssen ihn noch bezahlen.«
»Da geht er.«
Sie sahen gerade noch, wie Ibrahim mit den Händen auf dem Rücken, den Kopf ein wenig geneigt wie ein englischer Gentleman, über die Nordtreppe der Tempelterrasse verschwand.
64
Chawah Lawan?
An einer belebten Kreuzung stiegen sie aus und überquerten die Straße; in einer Einkaufspassage wurde in einem schattigen Straßencafe gerade ein Tisch frei.
»So«, sagte Onno und rieb sich den linken Oberschenkel, »hier können wir uns endlich normal unterhalten.«
Die Priester und Orthodoxen waren aus dem Straßenbild verschwunden, sogar die Touristen hatten einkaufenden Frauen, Arbeitern und Schülergruppen Platz gemacht. Obwohl nicht ein einziger Araber zu sehen war, saßen auf dem Rand eines Pflanzenkübels männliche und weibliche Soldaten in voller Bewaffnung.
»Wie kommt es«, fragte Quinten, »daß dieser Ibrahim soviel über die biblischen Figuren wußte? Die Mohammedaner haben doch den Koran?«
Onno sah ihn einige Sekunden lang an.
»Ist es das, was du unter ›sich normal unterhalten‹ verstehst?«
»Was ist daran denn so anormal? Es ist doch einfach eine Frage? Und das gibt es doch alles!«
»Gut, ich werde dir antworten«, sagte Onno ruhig. »Die Bibel und der Koran sind zu einem großen Teil deckungsgleich.
Dem Islam zufolge besitzt Allah im Himmel die Originalausgabe der Heiligen Schrift; die Thora und die Evangelien sind tendenziöse Editionen und Fälschungen davon; nur der Koran ist eine korrekte Kopie.« Nickend sah er Quinten an. »Ja, man muß sich nur trauen, den Großvater und Vater zum Sohn und Enkel auszurufen. – So.
Und könnten wir nun vielleicht einmal das Thema wechseln? Oder hast du gar kein Organ mehr für die alltägliche Wirklichkeit?«
»Das hier ist für mich die alltägliche Wirklichkeit.«
»Das befürchte ich auch. Aber hast du nie das Gefühl, daß das für andere Leute auf die Dauer manchmal ganz schön ermüdend sein kann?«
»Vom Nachdenken und Lernen wird man doch wohl nicht müde? Ich werde nur müde, wenn ich mich langweile.«
»Zugegeben«, sagte Onno, »Langeweile hat in deiner Gegenwart wenig Chancen.« Er sah sich um. »Du hast natürlich recht, es existiert alles, aber nicht alles existiert auf dieselbe Weise. Hast du eigentlich schon mal den Gesprächen anderer Leute zugehört? Hier an diesem Ort kannst du sie jetzt nicht verstehen, aber Menschen unterhalten sich meistens über Menschen – über ihre Verwandten und Bekannten, oder über Menschen bei der Arbeit, Menschen in der Politik und im Sport, und meistens über sich.«
»Und wenn ich jetzt mal todmüde würde von diesem Geschwätz? Wenn sie sich über Dinge unterhalten, geht es fast immer um Dinge, die man besitzen kann, wie Autos oder Geld. Ich rede nie über Menschen, und auch nicht über mich, und auch nicht darüber, was ich besitze.«
»Nein, du redest über Trapeze, über heilige Steine – und dann geht es dir nicht um die Steine, sondern um ihre Heiligkeit, um das, was sie bedeuten. Dir geht es nur um Bedeutungen und Zusammenhänge. Ich gebe zu, daß du das vielleicht mir zu verdanken hast, denn das Konkrete ist auch nicht gerade meine Stärke; aber so abstrakt wie bei dir geht es bei mir dann doch nicht zu. Hast du dir den Felsen vorhin eigentlich richtig angesehen? Weißt du, aus was für einem Gestein er ist?
Granit? Kalkstein?«
»Warum sollte ich ihn mir richtig anschauen, wenn er nichts bedeutet? Es gibt so viele Felsen.«
»Merkst du eigentlich gar nicht, was du da sagst? Wenn ein Fels etwas bedeutet, hast du es nicht nötig, ihn genau anzuschauen, und wenn er nichts bedeutet, erst recht nicht. Du brauchst also nie etwas genau anzuschauen. Bist du eigentlich von dieser Welt?«
Quinten antwortete nicht. Niemand wußte, wer er war – auch er selbst nicht. Und was war »diese Welt«? Die bolzenden Jungen in Westerbork, die waren von dieser Welt, aber das Gefühl, das sie hatten, wenn sie ein Tor schossen, hatte er nur, wenn ihm etwas Interessantes einfiel. All die Menschen hier, die sich wie die beiden weißhaarigen Damen am Nebentisch über andere Menschen oder über Dinge unterhielten, die man besitzen konnte, damit hatte er nichts zu tun. Sollte er deshalb vielleicht ins
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