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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Allerheiligste?«
    »Manche meinen das. Anderen zufolge war dies die Stelle des Brandopferaltars.« Er wies auf einen Lichtschein, der auf der anderen Seite aus dem Felsen kam. »Dort ist ein Loch im Stein, das in eine Höhle mündet; vielleicht floß durch dieses Loch das Blut der Opfertiere ab. In diesem Fall hätte das Allerheiligste weiter westlich gelegen.«
    Quinten tastete unter sein Hemd nach dem Kompaß, wobei er zuerst seinen neuen Davidstern fühlte. Der Eingang, durch den sie hereingekommen waren, lag genau nach Süden, in einer Linie zur Al-Aqsa-Moschee, die auf Mekka ausgerichtet war. Westen war also in Richtung der Klagemauer, Osten in Richtung des Ölbergs. Auch in diese Richtung hatte der Bau Portale.
    »Aber«, sagte er, während sie weitergingen, »Mohammed kam für seine Himmelsreise doch bestimmt nicht an diesen Ort, weil hier die jüdischen Tempel gestanden haben?«
    »Nein«, sagte Ibrahim lächelnd. »So liegen die Dinge noch immer nicht.«
    »Aber warum dann?«
    »Aus einem Grund, der in Zusammenhang mit dem Bau der jüdischen Tempel an diesem Ort steht.«
    »Und der wäre?« fragte Onno. Es war, als übertrüge sich die inquisitorische Weise, wie Quinten wieder einmal alles ganz genau wissen wollte, auch auf ihn.
    Leicht verwundert sah Ibrahim vom einen zum anderen.
    »Das ist ja fast ein Kreuzverhör.«
    »In der Tat«, sagte Onno dezidiert.
    »Es gibt eine Fülle von Überlieferungen über diesen Ort«, sagte Ibrahim förmlich. »Reichen Ihnen vier? Die erste ist, daß König David auf diesem Felsen einen Engel stehen sah, der kurz davor war, Jerusalem zu vernichten. Als die Gefahr gebannt war, baute er hier einen Altar. Salomo, sein Sohn, errichtete hier daraufh in den ersten Tempel.«
    »Und die zweite Überlieferung?«
    »Die besagt, daß wiederum tausend Jahre zuvor der Erzvater Jakob hier von der Leiter träumte, an der die Engel auf und nieder stiegen.«
    Onno hob einen Arm und rezitierte:
    »›Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels.‹ Das war in unserer Sprache«, fügte er auf englisch hinzu.
    »Schön«, sagte Ibrahim. »Hat Ähnlichkeit mit dem Arabischen. Genauso guttural.«
    »Stimmt. Ihre Kollegen werden nicht müde, ›Allemachtig achtentachtig‹ zu sagen.«
    Ibrahim sah ihn vorwurfsvoll an.
    »Das sind nicht meine Kollegen«, sagte er mit einer Stimme, die plötzlich noch eine Idee heiserer klang.
    Im selben Augenblick tat Onno seine Bemerkung leid. Vielleicht war Ibrahim tatsächlich ein Dichter, der als Fremdenführer seine Brötchen verdiente, und nicht ein Fremdenführer, der in seiner Freizeit gräßliche Gedichte schrieb.
    Inzwischen waren sie um die nach Norden gelegene Schmalseite des Felsen gegangen, wo ebenfalls überall weißgekleidete Frauen saßen. Jeder Schritt und jedes Wort ließen Quinten weniger an der Tatsache zweifeln, daß hier das Allerheiligste gelegen hatte.
    »Und warum«, fragte er, »schlief Jakob gerade hier?«
    Ibrahim strich kurz mit der Hand über sein dünnes graues Haar.
    »Weil hier noch früher noch etwas anderes geschehen ist.
    Hier ist nämlich außerdem die Stelle, an der sein Vater, Isaak, von seinem Großvater, Abraham, geopfert werden sollte.«
    »Ach ja, warum auch nicht?« sagte Onno, wieder auf niederländisch.
    »Aber im letzten Augenblick wurde er von einem Erzengel davon abgehalten.«
    »Gabriel?« fragte Quinten.
    Ibrahim machte eine zweifelnde Geste.
    »Michael, wenn ich mich recht entsinne. Damals war der Fels in gewisser Weise also auch ein Altar: für Menschenopfer.
    Das war der Grund, weshalb der Prophet ausgerechnet hierherkam – oder besser: weshalb Gabriel ihn auf seinem Pferd ausgerechnet hierherbrachte. Als er ankam, wurde er an dieser Stelle von Abraham, Moses und Jesus begrüßt.«
    »Ja«, sagte Onno, »wir glauben natürlich alles, was Sie sagen, aufs Wort, denn so sind wir nun mal. Aber so langsam bin ich doch gespannt auf die vierte Überlieferung, denn ich erkenne eine Steigerung in dem, was Sie sie uns da erzählen, Herr Ibrahim.« Er stockte kurz. »Was hört mein Ohr plötzlich aus meinem eigenen Mund? Ibrahim? Sind Sie nach Abraham benannt worden?« – Ibrahim machte eine leichte Verbeugung.
    »Mein Vater hat mir diese Ehre angetan.«
    Auf der Ostseite, wo der Stein niedriger war und eine Frau in Weiß mit dem Rücken zu ihnen betend in einer Nische saß wie ein Nachtfalter, blieb er stehen.

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