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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Plastikflaschen und Lumpen übersät; in der Mitte stand eine elektrische Steinsäge. Niemand arbeitete. Nördlich der Felskuppel befanden sich einige weitere kleine Gebäude, aber auch er war nun der Meinung, jetzt genug gesehen zu haben. Er ging zu Onno, der oben auf der Osttreppe der Tempelterrasse im Schatten der Arkaden stand und über den Ölberg schaute.
    Ibrahim war unermüdlich.
    »Dort«, sagte er im Ton eines stolzen Besitzers und zeigte auf den Fuß des Hügels, »ist der Garten Gethsemane, wo Jesus Christus –«
    »Ich weiß, ich weiß.«
    »Da hinten ist das Grab seiner Mutter, und dort auf dem Gipfel – sehen Sie die kleine Kuppel? Dort ist er in den Himmel aufgefahren.«
    Onno fühlte sich schwindlig und stützte sich schwer auf seinen Stock.
    »Hoffentlich«, sagte er zu Quinten, »haben sie hier in Jerusalem irgendeinen Funktionär, der den vertikalen Verkehr regelt, um Staus zu verhindern.«
    Quinten lachte, er war froh, daß der Wutanfall seines Vaters vorüber war, stellte aber Ibrahim gleich wieder die nächste Frage: »Wissen Sie auch, wo das Lager von Titus war?«
    Ibrahim drehte sich zur nördlichen Flanke des Ölbergs.
    »Irgendwo dort. Die Eroberer von Jerusalem sind immer von Norden gekommen.«
    Quinten sah sich um und entfaltete den Stadtplan. Das bedeutete, daß die Gesetzestafeln, die Menora und die anderen Gerätschaften auf demselben Weg aus dem Tempel getragen worden waren, hier die Treppe hinunter und dann durch das Kidrontal auf die gegenüberliegende Seite. In der Stadtmauer auf der Ostseite fiel ihm zwischen den Bäumen ein fremdartiges Torgebäude auf: es schien tief in die Erde eingesunken, hatte ein doppeltes Schiff und war gekrönt von zwei niedrigen Türmen mit flachen Kuppeln; die beiden Durchgänge waren zugemauert. Auf der Frontseite mit den Zinnen standen israelische Soldaten mit grünen Baretten.
    »Was ist das für ein Tor?«
    »Ah!« sagte Ibrahim und hob beide Hände. »Das Goldene Tor! Den Juden zufolge ist es das Tor, durch das Gott einst in ihren Tempel gekommen ist, um dort den Thron zu besteigen.
    Es muß geschlossen bleiben bis zur Rückkehr des Messias am Ende der Zeiten. Darum möchte jeder fromme Jude am liebsten dort am Hang des Ölbergs beerdigt werden.«
    Mit dem Stock zeigte Onno auf die Soldaten auf dem Dach.
    »Der Messias wird unverzüglich abgeknallt.«
    Auf Ibrahims Gesicht zeigte sich ein schiefes Lächeln.
    »Nicht nur das, der Messias hat noch ein zweites Problem.
    Auf der anderen Seite der Mauer befinden sich Moslemgräber, und die sind unrein, er darf nicht darübergehen.«
    »So eine Gemeinheit«, sagte Quinten, »die dort anzulegen.«
    »Da siehst du es mal wieder«, lachte Onno, »hier gehen sie über Leichen – oder gerade nicht, wie soll man das sagen?«
    »Für die Christen«, fügte Ibrahim hinzu, »ist das Goldene Tor ein Symbol der Jungfrau Maria, durch die Jesus zur Welt kam, und die vor, während und nach seiner Geburt Jungfrau blieb: geschlossen, um es einmal so auszudrücken.«
    Diese Bemerkung verunsicherte Quinten. Er warf einen scheuen Blick auf das geheimnisvolle Tor und dachte an seine Mutter; um sich Haltung zu geben, betrachtete er den Stadtplan, den er noch aufgeschlagen in Händen hielt. Plötzlich fiel ihm auf, daß der ganze Tempelplatz und die erhöhte Terrasse mit dem Felsendom die Form eines Trapezes hatten. Er wies seinen Vater darauf hin.
    »Was ist denn daran so besonders?«
    »Na, daß der Stein von vorhin auch ein Trapez ist.«
    »Ja«, sagte Onno, »das ist dann wohl so.«
    Quinten wußte auch nicht, was er davon halten sollte. Hatte der Felsen Modell für die Terrasse und den Platz gestanden?
    Auch die Piazza San Marco in Venedig hatte die Form eines Trapezes, das hatte ihm besonders gut gefallen. Hatten alle trapezförmigen Dinge durch diese Form etwas miteinander zu tun? Die Kugel, der Kreis, das Achteck, das Quadrat, die Ellipse, das Rechteck, das Dreieck, der Würfel, die Pyramide – all die Figuren, mit denen Herr Themaat ihn vertraut gemacht hatte, was war ihre eigentliche Botschaft? Was waren sie eigentlich? Gab es sie irgendwo in Reinform? Vielleicht dort, woher auch die Musik kam? Er schaute wieder auf die Karte und bemerkte, daß genau in der Mitte des Tempelplatzes nicht der Felsendom, sondern der Kettendom stand.
    »Um ganz ehrlich zu sein«, sagte Onno, während er seine Blicke über den Ölberg, den Berg Skopus und den Berg Zion schweifen ließ, »macht mich die ganze Metaphysik hier

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