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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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steinernen Liegestühlen vorbei gingen sie zu einer breiten Treppe, die etwa vier Meter zu einer Terrasse hinaufführte; am Ende der Treppe befand sich eine einzeln stehende Arkadenreihe aus vier verwitterten Bögen. Quinten kam der Kuppelbau immer abweisender vor, je näher sie kamen, wie ein Leuchtturm, der nur aus der Ferne gesehen werden will.
    Die untere Hälfte der Basis, die mit weißem Marmor verkleidet war, ging in bunte Fliesenornamente über und wurde am Dachsims von Koranversen in dekorativer arabischer Schriftverziert. Ibrahim erzählte, der Dom werde meistens für eine Moschee gehalten, sei jedoch ein Schrein, der im siebten Jahrhundert vom Kalifen Abd al-Malik gebaut worden sei – aber, dachte Quinten, als er sich am Eingang die Schuhe auszog, dann immerhin nach dem Entwurf eines christlichen Architekten, denn das Achteck des Unterbaus kam ihm nicht sehr mohammedanisch vor. Es hatte die Form der Taufk apellen, wie er sie in Florenz und Rom gesehen hatte; von Herrn Themaats Vorträgen wußte er, daß das mit dem ›achten Tag‹
    zusammenhing: der Auferstehung Christi, die auch hier irgendwo in der Nähe stattgefunden hatte. Aber über dieses Gebäude hatte Herr Themaat ihm nie etwas erzählt.
    In Strümpfen ging er auf den Teppichen hinein. Nach einigen Schritten blieb er stehen. Sein Atem stockte. Konnte es wahr sein, was er sah?

    Ein Stein. In der Mitte des dämmrigen Raumes, innerhalb des Säulenkreises, der die Kuppel trug, und umzäunt von einer Holzbalustrade, befand sich ein riesiger Fels, mannshoch, mit einer skurrilen Oberfläche. Während er den Stein betrachtete, spürte er die Blicke seines Vaters, erwiderte sie jedoch nicht.
    Der leicht trapezförmige Stein war goldgelb wie ganz Jerusalem; offenbar war es die Spitze des Tempelbergs. Wie schwer konnte etwas sein? Während der letzten drei Wochen war alles immer noch schwerer geworden: nach Venedigs Leichtigkeit die düsteren Fassaden von Florenz, dann die versunkenen römischen Ruinen, vorhin die enormen Quader der Klagemauer, und jetzt stand er Auge in Auge mit dem Allerschwersten: dem Gestein der Erde – aber zugleich, hatte Max ihm einmal erzählt, schwebte sie doch eigentlich schwerelos in einer Bahn um die Sonne.
    Es war heilig hier – oder wurde dieses Gefühl nur dadurch verursacht, daß der Ort präsentiert wurde wie ein Edelstein in einer Goldfassung? Konnte man auf diese Weise nicht aus allem etwas Heiliges machen? Warum waren hier nicht mehr als zwei oder drei Touristen? In der breiten Galerie auf der anderen Seite des Arkadenkreises saßen hier und da mit abgewandten Gesichtern und in langen weißen Gewändern, die auch den Kopf einhüllten, arabische Frauen auf dem Boden.
    An einer Ecke der Balustrade war eine Empore in der Form eines Turms, in der drei Barthaare des Propheten verwahrt wurden, wie Ibrahim erzählte. Dann zeigte er auf eine Vertiefung im Stein und sagte: »Das hier ist sein Fußabdruck, als er sich für seine Nachtreise abstieß. Und hier«, fuhr er fort und deutete auf einige breite Rillen an der Seite, »sehen Sie die Fingerabdrücke des Erzengels, der den Felsen zurückhielt, denn der wollte mit in den Himmel. Das war Gabriel, wie Sie ihn nennen, der dem Propheten den Koran diktiert hat.«
    Quinten ließ die Blicke über den Stein wandern.
    »Und hier«, fragte er, »standen hier auch die Tempel von Salomo, Zerubbabel und Herodes?«
    »Das nimmt man an.«
    »Aber das kann doch ganz leicht festgestellt werden. Warum fangen die Juden hier in der Nähe nicht an, ein bißchen zu graben?«
    Ibrahim legte die Stirn in ironische Falten.
    »Weil unsere religiösen Autoritäten es nicht gerne sehen, daß die Juden hier in der Nähe ein bißchen graben.«
    »Und das tun sie dann auch nicht?«
    »Bisher nicht.«
    »Man könnte es bis zu einem gewissen Grad sogar aus dem Neuen Testament beweisen«, sagte Onno auf niederländisch.
    »Erinnerst du dich an den Text in der Kuppel des Petersdoms: ›Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen‹? Christus sagte das also vermutlich mit ganz bestimmten Betonungen: ›Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meinen Tempel bauen‹. Das heißt«, er zeigte auf den Felsen, »im Unterschied zu dem Tempel auf diesem Felsen.« – Ibrahim wartete höflich, bis Onno fertig war. Quinten bemerkte, daß es ihm unangenehm war, ausgeschlossen zu werden, und während sie langsam im Uhrzeigersinn weitergingen, fragte er ihn: »War hier das

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