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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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sprach, zog er seine unteren Augenlider auf merkwürdig lauernde Weise zu den Pupillen hoch, was einen ziemlich bedrohlichen Eindruck machte, aber diese Drohung galt ausschließlich den Feinden des Volkes. Er redete zu lang, wie fast jeder, aber er wurde von reichlichem Applaus belohnt, danach spielte ein Ensemble Musik von Charles Ives und riß den Saal mit militanten Melodien von Hanns Eisler zu Begeisterungsstürmen hin, der hier, nach einem Dornröschenschlaf von vierzig Jahren, vom Zeitgeist wachgeküßt wurde.
    Danach erschien ein Gast aus Berlin am Rednerpult, Rudi Dutschke höchstpersönlich, und von ihm wurde ein anderer Ton angeschlagen. Er war etwa siebenundzwanzig Jahre alt, klein, zierlich, und schlug mit dem glühendem Blick seiner Augen den gesamten Saal in seinen Bann. Neben ihm, vor einem gesonderten Mikrofon, postierte sich eine gesetzte Dame mittleren Alters, die seine Mutter hätte sein können und ihn nicht aus den Augen ließ. Mit rauher Stimme begann er zu sprechen, Stakkato, ins Blaue, nach einigen Sätzen jeweils ungeduldig auf die Übersetzung wartend: es war klar, daß das Abbremsen seiner Gedanken ihn mehr Anstrengung kostete als ihre Entwicklung. Mit einer theoretischen Raserei, die den praktischen Holländern fremd war, legte er, Marcuse, Rosa Luxemburg und Plechanov zitierend, dar, daß die radikale soziale Veränderung subjektiv von den Massen nicht gewollt, objektiv gesehen aber immer notwendiger werde. Die spätkapitalistische Arbeiterklasse, noch immer ausgebeutet bis hin zum Verlust ihrer Identität, füge sich bewußtlos dem relativen Wohlstand und den formal demokratischen Strukturen, die ausschließlich dazu dienten, die Gewalttätigkeit des Imperialismus zu verschleiern. Wie sollte in dieser Situation die außerparlamentarische Opposition von Studenten und Intellektuellen in den Metropolen – die ja doch nicht am Produktionsprozeß teilnahm – ihre Isolation durchbrechen und sich die notwendige Massenbasis schaffen? Er fragte es mit einer eleganten Geste seiner schmalen, feingliedrigen Hand; und die Dolmetscherin imitierte auch das mit ihren beringten Fingern. Sie befinde sich ausschließlich in der Dritten Welt, nur dort gebe es ein neues Proletariat, das nicht korrumpiert sei von falschem Bewußtsein – und nur aus der Solidarität mit den Befreiungsbewegungen in Asien, Afrika und Lateinamerika, mit dem Völkermord in Vietnam als Katalysator, könne als radikale Negation des Weltkapitalismus eine Praxis entstehen und zugleich Anstoß für eine neue Anthropologie sein.
    Auf diese Weise könne dann auch die Pervertierung der Revolution in der Sowjetunion und ihrer Satelliten verhindert werden, wo die Diktatur des Proletariats zuerst zu einer Diktatur der bolschewistischen Partei, dann zu der des bürokratischen Staatsapparates und schließlich zu der eines einzigen Mannes entartet sei, Stalins, und zwar mit aller dazugehörigen Unterdrückung, Brutalität, Folter und Grausamkeit; es sei dies eine Demonstration des Unterschieds zwischen despotischem und demokratischem Kommunismus, auf die Marx in seinen Ökonomisch-philosophischen Manuscripten bereits hingewiesen habe.
    Es war für die Dolmetscherin zu schnell gegangen, sie stammelte nur noch etwas von »Pervertierung« und »Stalin«, aber man hatte Dutschke auch so verstanden. Er erhielt kräftigen Applaus, für den er sich nicht einmal mit einem Kopfnicken bedankte, stieg vom Podium, um sich zu seinen Genossen in der ersten Reihe zu setzen – und plötzlich gab es einen Zwischenfall. Es ging so schnell, daß weder Max noch Onno die Szene hatten verfolgen können. Plötzlich war der deutsche Ideologe unsichtbar, zu Boden geworfen von einem schreienden und um sich schlagenden Mann; andere eilten hinzu, der ganze Saal erhob sich. Im Tumult rief jemand, daß er den Kerl kenne, es sei ein berüchtigter Faschist aus Amsterdam-West, den er gestern noch in der Nähe der belgischen Grenze gesehen habe, einem anderen zufolge handelte es sich jedoch um einen Parteikommunisten aus Ost-Groningen.
    »Wenn man zwei so verschiedene Feinde haben kann«, sagte Onno lakonisch, »dann muß man einfach recht haben.«
    Max’ Gedanken waren bei Ada, die als nächste auftreten sollte. Er überlegte, nach hinten zu gehen, um vorzuschlagen, daß das Duo mit dem Orchester, das den Abend beschließen sollte, tauschte, aber die Bühnenarbeiter schoben bereits einen Flügel auf die Bühne und stellten einen Stuhl und einen Notenständer daneben.

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