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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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gegeben, später hatten ihn seine Pflegeeltern auf eine Musikschule geschickt, aber viel machte das nicht her; den Flügel hatte er aus einer Laune heraus auf einer Versteigerung gekauft, vielleicht nur, um zu sehen, wie er in sein Haus getragen wurde. Womit wieder etwas geradegerückt worden war. Die wenigen Male, da er mit Ada spielte, geschahen zwei völlig unterschiedliche Dinge: Sie hatte das Konservatorium in Den Haag besucht und war Fachfrau, die wußte, daß es beim Musizieren nicht um das Ausdrücken von Emotionen ging, sondern um das Erzeugen von solchen: das konnte nur gelingen, wenn es professionell geschah, das heißt, unbewegt wie ein Chirurg; wie theatralisch die Mienen der Dirigenten und Solisten auch immer waren, wenn sie wußten, daß man ihnen zusah: zu Hause oder während der Proben machten sie diese Faxen nie. Max hingegen war in einem solchen Maße kein Musiker, daß es ihm nahezu unmöglich war zu musizieren, und zwar nicht, weil es ihn nicht berührte, sondern weil es ihn zu sehr berührte. Er besaß eine umfangreiche Plattensammlung, vier Meter Platten von Machaut und Dufay bis Boulez und Riley, aber für sich selbst legte er eigentlich nie eine auf. Wenn er auf seinem Flügel eine Taste anschlug und danach die Oktavtaste, ergriff ihn das schon heftig und eröffnete einen Abgrund in ihm, vor dem er Höhenangst bekam.
    Wenn der Klavierstimmer da war, tat er, als läse er die Zeitung; tatsächlich aber wurde er von Emotionen zerrissen, und das fast noch mehr, als wenn ein großer Solist spielte, denn jetzt war es die Harmonie selbst, die erklang, in Reinkultur, ohne Zutun eines Komponisten – zu Hause schmeckte der Teig immer besser als der Kuchen, aber er durfte davon nicht naschen, auch wenn er tausendmal versicherte, daß er keinen Kuchen wollte. Milch, Eier, Butter, Mehl und Zucker – im Ofen wurde dieses göttliche Gemisch zwar in ein Kunstwerk verwandelt, aber zugleich auch verpfuscht. Dutzende Male wiederholte er mit Ada die ersten vier Takte von Schuberts vierhändiger Fantasie in F am Klavier: und was geschah? Es wurde ein Nest eingerichtet, es erklangen einige wenige Töne – und zugleich war die absolute Schönheit erreicht, das Allerhöchste, das Allerkomplizierteste und das Allerunbegreiflichste in Gestalt des Allereinfachsten. Auch nach dem hundertsten Mal hatte es nichts an Glanz eingebüßt und nichts von seinem Geheimnis preisgegeben.
    »Was ist es?« rief Max verzweifelt aus. »Was ist es, in Gottes Namen? Plötzlich erinnert es mich an etwas. Ja, ich hab’s: an Mendelssohns Hebriden. « Er stand auf, zog eine Platte heraus und legte sie auf den Plattenteller. »Hier, hör dir das an, irgendwo in der Nähe von Takt hundertundfünfzehn.« Er hob den Zeigefinger. »Hörst du? Das ist doch fast dasselbe, genauso eingebettet.«
    Ada küßte ihn auf die Wange.
    »Du hast ein gnadenloses Melodien-Gedächtnis«, sagte sie.
    Er legte einen Arm um ihre Schultern.
    »Mit dir kann ich wenigstens darüber sprechen, obwohl du auch keine blasse Ahnung hast, aber das hat niemand. Weißt du, was Onno einmal sagte, als ich über Musik zu reden anfing? Er schüttelte den großen Kopf und sagte: ›Musik ist für Mädchen.‹ Nun, dieses Mädchen ist jetzt also da. Das hat er richtig gespürt.«
    »Warum soll Musik nur etwas für Mädchen sein?«
    »Du darfst das nicht so wörtlich nehmen. Als ich mir einmal ein Eis kaufte, sagte er: ›Eis ist für Pastoren.‹ Musik gibt es nicht für ihn, er hält sie für Klang ohne Bedeutung. Für ihn haben nur Worte Bedeutung. Was er gegen die Musik hat, ist wahrscheinlich, daß sie für viele Menschen ein Fluchtweg ist, eine Art Zauberformel zum Entkommen, nach dem Motto: die Musik, die gibt es auch noch. Vielleicht hält er Musik für einen feigen Trost. Er hat mir übrigens einmal erzählt, daß das griechische mousikè technè – die ›Kunst der Muse‹ – im Mittelalter vom altägyptischen Wort moys abgeleitet wurde, das ›Wasser‹ bedeutet. Damit wurde Moses zum Erfinder der Musik, denn sein Name bedeutet nach derselben falschen Etymologie ›aus dem Wasser errettet‹. Du weißt schon, der Schilfkorb, in dem er als Säugling im Nil gefunden wurde. Derselbe Moses, der Wasser aus dem Fels schlug und Gott in der Genesis Himmel und Erde erschaffen ließ mit dem Wort, demzufolge sein Geist über den Wassern schwebte. Es stimmt immer alles. Du übst also die mosaische Kunst aus.«
    »Mit Sicherheit. Zeig mir mal deine Daumen.«
    Er legte seine

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