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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Während der noch immer lauthals schimpfende Angreifer mit schmerzhaft verrenkten Armen zu einer Seitentür transportiert wurde, erschienen Bruno und Ada, sie mit ihrem Cello. Dieser Anblick hatte sofort eine beruhigende Wirkung, und alle nahmen Platz. Der Gastredner schien glücklicherweise nur geringfügige Verletzungen davongetragen zu haben, denn er blieb im Saal. Ada, jetzt in Jeans und in einem weißen Hemd aus Max’ Kleiderschrank, nahm das Cello zwischen die Beine und ordnete die Partitur, legte den Bogen an die Saiten, sah Bruno an, hob den Kopf für den Einsatz …
    Janáček. Sofort, bei den ersten Tönen, war es Max, als ob sich ein Riß auftat in all dem Politischen und Vergänglichen hier, ein Spalt, durch den etwas Ewiges sichtbar wurde – als drehe er sich in Platons Grotte um. Onno hatte recht mit seiner Auffassung von der Musik, sie war nicht von dieser Welt; und er dachte daran, woran der deutsche Aktivist jetzt wohl denken mochte, nachdem er gerade getreten und geschlagen worden war. Vielleicht an Lenins Worte: Auch ich würde gerne gerührt von der Appassionata, aber es ist keine Zeit, um von der Appassionata gerührt zu werden, es ist Zeit, um Köpfe abzuschlagen. Die Musik – vielleicht nicht die Eislers, wohl aber die Schuberts oder Janáčeks – war offenbar die Stimme der schwärzesten Reaktion, Erzfeind der progressiven Menschheit, Volksfeind Nummer eins. Der Saal, soeben noch ganz in Aufruhr, lauschte wie ein geübtes Konzertpublikum. Viele hörten diese Musik wohl zum ersten Mal in ihrem Leben: während sie zu Hause im Radio sofort abgedreht und durch etwas Leichteres ersetzt wurde, empfing sie hier ihren künstlerischen Ritterschlag.
    Stolz sah Max, wie Ada sich verbeugte und mit Bruno noch einmal auf die Bühne zurückgerufen wurde.
    »Sei du nur sehr umsichtig mit diesem Mädchen«, sagte Onno. »Du hast das eigentlich gar nicht verdient.«
    Etwas daran stimmte, fand Max. Schon den ganzen Abend schweiften seine Augen ab zu einem Hinterkopf in der dritten Reihe mit wilden roten Locken; die Frau, der er gehörte, schien das zu spüren, denn ab und zu sah sie zur Seite, nicht direkt zu ihm, aber dennoch so, daß er sich am Rande ihres Gesichtsfeldes befinden mußte, denn er bemerkte, daß sie etwas sah, wohin sie aber nicht schaute: ihn nämlich. Daran war nichts zu ändern. Es mußte geschehen, ob er nun wollte oder nicht.
    Flügel und Notenständer waren verschwunden, und hinter dem langen Tisch nahm das Forum Platz. Es bestand aus der linken Elite des Kuba-Komitees, dem Schriftsteller, dem Schachmeister und dem Komponisten, ergänzt von einer vornehm dreinschauenden alten Dame, die während des spanischen Bürgerkriegs Krankenschwester bei den Roten gewesen war und die niederländische Staatsbürgerschaft noch immer nicht zurückbekommen hatte. Vorsitzender war ein allgemein geachteter Journalist und Publizist, auch nicht mehr ganz jung, früher Anarchist, jetzt wieder Anarchist. Jeder gab eine kurze Erklärung ab, worauf sich eine Diskussion über all das entspann, was der rabiate Deutsche eigentlich bereits erschöpfend behandelt hatte. Die alte Dame lenkte die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß das höchste Interesse der pharmazeutischen Industrie in einer kapitalistischen Wirtschaft natürlich darin bestehe, die Patienten nicht genesen zu lassen, und es sei klar, welche Konsequenzen dies für die Qualität der Arzneimittel und somit für die Volksgesundheit habe, woraufh in der serielle Komponist die Hände über den Kopf hob und die chinesische Heilkunst lobte, die unter der beseelten Leitung des Vorsitzenden Mao sogar bei schweren Operationen auf eine Narkose verzichten könne.
    Onno konnte sich plötzlich nicht mehr zurückhalten und rief: »Hysteriker! Du bist in zehn Jahren genauso rechts wie ein amerikanischer General!«
    »Dem möchte ich widersprechen«, lachte der Komponist, woraufh in Onno sich hinstellte und würdig erklärte: »Ich wünsche nicht, daß man mir widerspricht, ich wünsche, daß man mich niederschlägt.«
    Jetzt kam allmählich Stimmung auf. Auch der Schriftsteller mußte eine Unterbrechung verarbeiten: Als er nicht allzu überzeugt seiner Sorge Ausdruck verlieh, daß die Arbeiter die Intellektuellen im Stich ließen, rief jemand:
    »Zieh Leine, Mann! Geh doch Zuckerrohr auf Kuba schlagen.«
    »Ich habe auf Kuba Zuckerrohr geschlagen.«
    »Ja, eine Zweihundertfünfzigstelsekunde – für den Fotografen.«
    Mit einem überlegenen Lächeln lehnte der

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