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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Schriftsteller sich zurück und schwieg.
    »So ein Unsympath«, sagte Max.
    Onno nickte.
    »Du hast eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm.«
    Dann stand im Saal jemand auf und sagte mit dröhnender Stimme: »Ich bin ein Arbeiter!«
    Alle Köpfe drehten sich zu ihm. Tatsächlich. Da stand er.
    Kein Zweifel: ein Arbeiter. Schwerindustrie vermutlich. Hochöfen. Auf dem Kopf eine Baskenmütze mit einem Stielchen, sein zerfurchtes Gesicht von der Ausbeutung verwüstet, die Hände leicht geöffnet in Höhe der Hüften, bereit, jede Arbeit zu erledigen. Hier und da wurde applaudiert; die alte Dame beugte sich über ihr Mikrofon und lud ihn ein, am Tisch Platz zu nehmen. Der Vorsitzende versuchte es noch zu verhindern, aber der Arbeiter war bereits unterwegs, mit nach vorn gestrecktem Kinn strahlte er eine tiefe Verachtung aus für jeden, der kein Arbeiter war.
    »Das ist ein Verrückter«, sagte Onno. »Das sieht man sofort. Der hat sein Leben lang noch keinen Finger krumm gemacht.«
    Jeder mit Erfahrung wußte, daß der Abend jetzt in einem Desaster enden würde. Der Arbeiter würdigte die Forumsmitglieder keines Blickes; er zog das Mikrofon der alten Dame zu sich heran und begann mit starrem Blick darzulegen, daß die Jesuiten unter den Straßen und Plätzen Amsterdams ein unterirdisches Netzwerk von Gängen angelegt hätten, um von da aus eines Tages erbarmungslos zuzuschlagen. Unzählige Briefe habe er geschrieben, an den Gemeinderat, an die Regierung, an die Königin, an die Vereinten Nationen, aber nie …
    »Ich danke Ihnen für Ihre klaren Erläuterungen«, fiel ihm der Vorsitzende ins Wort. »Und jetzt ein ganz anderes Thema: der aktuelle Überfall Israels auf –«
    »Halt den Mund, wenn ich rede«, sagte der Arbeiter, ohne auch nur den Kopf zu drehen. Während die Forumsmitglieder einander verblüfft ansahen und die Stimmung im Publikum immer ausgelassener wurde, fuhr er unerschütterlich fort: »Es ist kein Zufall, daß der General der Jesuiten ein Niederländer ist. Er hat sein Hauptquartier in Spanien, das seit dem Achtzigjährigen Krieg und der Inquisition –«
    Wieder stand jemand im Saal auf und rief:
    »Ach hör doch auf, Mann, mit diesem Unsinn!« Er lieferte den Beweis, daß auch Leibesfülle zu geistiger Überlegenheit beitragen kann, denn nun schwieg sogar der Arbeiter. Der übermäßig dicke, kahle Zwischenrufer, ein bekannter Restaurator, wandte sich mit ausgestreckten Armen an das Publikum, das ihn jubelnd anfeuerte. »Was sollen wir denn mit diesem Quatsch? Das weiß doch jeder, daß Amsterdam das Zweite Jerusalem ist: begnadet mit der verschärften hyperbiogeometrischen Ethik Dantes, Goethes und Königin Esthers mit ihren sechsunddreißig Essenern und sechsunddreißig Zaddikim und der neuen, alles erneuernden messianisch-pythagoräischen Weltmathematik, der Urmathematik der Allwissenheit der Vorwelt, als Auslegung des Alten und des Neuen Testaments, und zwar der neuen jüdischen Harmoniegesetze der Primzahlen und Primzwillinge Moses, Davids und Salomons, die neue Bio-Algebra, Bio-Geometrie und Bio-Gleichgewichtslehre von Willem de Zwijger, Spinoza, Erasmus, Simon Stevin, Christiaan Huygens, Descartes und Rembrandt und die neue bildende Mathematik von Teilhard de Chardin, Mondrian, Steiner, Thomas von Aquin, Mersenne, Fermat,
    Aristoteles, Nikolaus Cusanus, Wittgenstein, Weinreb –«
    Aber er bekam nicht die Gelegenheit, seine Liste abzuschließen: hinten im Saal flog plötzlich eine Tür auf, durch die der Angreifer von vorhin wieder hereinstürmte.
    »Wo ist dieser dreckige Deutsche?« schrie er und sah wild um sich. »Gebt ihn mir, und er bekommt einen Todestritt!«
    Damit war die kritische Grenze überschritten: der Saal kippte und versank in einem dröhnenden Gelächter. Der Vorsitzende verschränkte die Hände vor der Brust, lehnte sich zurück und betrachtete gelassen das Pandämonium.
    »Es ist kein Zufall«, nahm der Arbeiter unbewegt den Faden seiner Enthüllungen wieder auf, »daß Prinzessin Irene vor drei Jahren einen französischen Erbschleicher, der spanischer König werden will, römisch-katholisch geheiratet hat.«
    »Augustinus!« rief der Restaurateur. »Einstein! Euklid!«
    »Gebt mir den Schuft! Ich schlage ihm den Kopf ab!«
    »Prinzessin Beatrix muß Königin von Israel werden!«
    »Gute Idee! Republik! Republik!«
    Kurz darauf stellte sich heraus, daß die Organisatoren einen guten Einfall gehabt hatten, denn nun traten von zwei Seiten Musiker aus den Kulissen, die auf

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