Die Entdeckung des Himmels
diesem Schätzchen vorhin. Wir sind einfach das, was wir sind: ich bin sternenkundig, du sprachkundig. Wir werden schon sehen.«
Onno schüttelte den Kopf und seufzte tief.
»Es ist unverantwortlich, äußerst unverantwortlich …«
Plötzlich hob er eine Hand in die Höhe und rief: »Vivere pericolosamente!«
Sie fuhren in die Stadt. Spärlich beleuchtete alte Straßen, marmorverbrämte Plätze, weiße Kirchen im spanischen Barockstil, Standbilder aus der Kolonialzeit. Der Zerfall, das ärmliche, aber rege Gedränge auf den Bürgersteigen und die Schlangen vor den Geschäften, in denen das Spektrum der Hautfarben vom schwärzesten, afrikanischen Schwarz bis hin zum weißesten, iberischen Weiß reichte, verbarg sich hinter dem regen Verkehr dahinknatternder Wracks. Aus den Fenstern und aus den tragbaren Radios, von überall her kam Musik, Cha-Cha-Cha, Salsa, Trommeln. Sie fuhren an alten Festungen vorbei, und vor einem meterhohen schneeweißen Christusbild bemerkte Max:
»Bestimmt eine kubanische Vorstellung von Lenin.«
Am Hafen, der voller rostiger russischer Schiffe mit Hammer und Sichel auf den Schornsteinen lag, bogen sie in einen breiten Boulevard ein. Links, wo Tausende von Menschen flanierten, war alles hell erleuchtet, rechts hing die Finsternis des Meeres. Überall auf der schwarzen Steinbalustrade, die über der Brandung in der Tiefe gegen die Orkane errichtet worden war, saßen schmusende Pärchen und Schach spielende alte Männer. Auch hier wieder überall Musik. Tafeln meldeten, daß auf der anderen Seite des Wassers, hundertfünfzig Kilometer hinter dem Horizont, in Florida, der Feind lauerte: el imperialismo yanqui. Am Ende des langen Boulevards dann ein modernes Stadtviertel mit Hochhäusern, heller Straßenbeleuchtung und sogar Neonreklame, das Straßenbild wurde hier vor allem von Weißen bestimmt.
Vor der Auffahrt eines hohen, modernen Hotels mußte Jesus die Papiere vorzeigen; auf der anderen Straßenseite, hinter einer Sperre, standen Schaulustige. Die Papiere waren offenbar in Ordnung, denn mit jener kühlen Handbewegung, die die Polizei überall auf der Welt – und im Dienste des Kommunismus ebenso wie im Kapitalismus oder Faschismus – gleichermaßen beherrschte, durften sie passieren. Unter einem breiten Vordach stiegen sie aus: Habana Libre. Es war noch zu sehen, daß dort früher einmal Habana Hilton gestanden hatte.
Auch am Eingang wanderten die Blicke wieder unheilverkündend von den Bildern im Paß zu den Gesichtern, so daß sie das Gefühl bekamen, sie sähen aus wie potentielle Konterrevolutionäre.
»Hier wird auf Kulturträger aber gut aufgepaßt«, sagte Max.
Mit Jesus voran gingen sie mit ihren Koffern durch die kühle, belebte Hotelhalle zur Rezeption. Während ihre Papiere dort abermals aus dem Umschlag genommen wurden, sahen sie sich in dem langgestreckten Raum verblüfftum.
Auf zwei großen Leinwänden wurden Filme ohne Ton gezeigt und von lauter, fröhlicher Musik begleitet, die zum Tanzen einlud: auf der einen Leinwand waren Kampfh andlungen in Vietnam zu sehen, Bomben, die aus grauen B–52 hagelten, Hubschrauber, die Dörfer mit MG-Salven traktierten, Flugzeuge, die Äcker mit Napalm verbrannten, ein amerikanischer Sergeant, der einen gefesselten, vornüber am Boden liegenden Vietcongsoldaten minutenlang zu Tode trampelte und ihm dann, die Maschinenpistole achtlos in einer Hand, je eine Kugel in den Hinterkopf, in den Rücken und zum Schluß aus Spaß noch in den Hintern jagte, wobei der Körper im Sand jedesmal um einige Zentimeter wegzuckte. Zum Vergleich schlugen an der anderen Leinwand amerikanische Polizeibeamte mit Knüppeln auf schwarze Demonstranten ein. In der Mitte des Raumes, der ringsum mit Parolen und riesigen Bildern dekoriert war und mit Fotos von Affen, die Coca-Cola tranken, war eine Art Totempfahl errichtet worden, der bis unter die Decke reichte und vollhing mit Maschinengewehren, Gewehren, Revolvern, Stenguns, Handgranaten und allem, was sonst noch Tod und Verderben säen konnte.
»Hier herrscht aber«, sagte Onno, »eine reichlich originelle Auffassung von Kultur.«
Max lachte.
»Vielleicht ist es ein Kongreß über die Geburt der Revolution aus dem Geiste des Futurismus.«
Sie trugen sich ein, und ein Mädchen von der Organisation fragte sie, ob sie sich vielleicht zuerst etwas frisch machen wollten, bevor sie zum Kongreßbüro gingen. Aber Onno wollte alles schnell erledigen und dann gleich zu Ada, die sich wundern würde, daß ihre
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