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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Überall spazierten Familien unter den Palmen; aus Lautsprechern an den Laternenmasten war eine elektronische Komposition zu hören, die ihn an Luigi Nonos Musik zu Peter Weiss’ Die Ermittlung erinnerte, von der er zu Hause eine Platte hatte, und dazwischen quäkten zahllose Radios. »Ich! Ich!« riefen die Jungen den vorbeigehenden Halbblutmädchen zu, die manchmal von so herzzerreißender Schönheit waren, daß es Max nicht nur den Atem, sondern auch die Lust nahm: sie waren zu schön, es waren Kunstwerke, es brauchte, nein, es durfte nichts hinzugefügt werden, doch die Erotik verbarg sich gerade in der Abweichung von der Vollendung. Polizistinnen in grünen Uniformen, mit weißen Mützen und nicht älter als siebzehn, versuchten auf den Kreuzungen Ordnung in den chaotischen Verkehr zu bringen. An der Seitenwand eines Kinos hing eine zehn Meter hohe Leuchtreklame, die für ein politisches Produkt warb: Vietnam; es war eine Landkarte mit bunt aufflackernden Punkten, Flächen und Daten, die Aufschluß gaben über die amerikanischen Luft - und Flottenstützpunkte, die Zahl der Soldaten, die Schlachten, die besetzten und befreiten Gebiete; ein Bomber, der gepunktete Linien hinter sich ließ, die in rot aufleuchtenden Sternen endeten, verschwand plötzlich in einer roten Glut, gefolgt von der letzten Notierung der Zahl abgeschossener Maschinen: 2263.
    » Gracias , towarischtsch !« rief ein Mann fröhlich Onno zu und hob die Hand.
    Onno dankte ihm mit einer graziösen Verbeugung.
    »Die meinen, wir sind Russen.«
    Auf der anderen Straßenseite, in einem offenen, weißen Pavillon, hing ein riesiges Gemälde mit dem stilisierten Kopf Fidel Castros: geschweißte Stahlplatten, zwischen eisernen Zähnen ein Bündel Raketen, eine rote Rose als Zigarre, der gepanzerte Kopf mit einem umgedrehten Nachttopf als Helm, von einem blutigen Auge belagert, ringsum schwarze Figuren, die totgeschlagen werden, und das Ganze übersät von Hämmern und Sicheln, Zahlen, Hintern, Zigarren, Fischen, Eiern, Schädeln, Büchern, Augen und Schnecken. Als Max Onno darauf aufmerksam machte und etwas über »sozialistischen Surrealismus« sagte, hörten sie durch den Lärm der Musik und des Verkehrs hindurch ein unheilvolles Brüllen aus einer anderen Welt. Eine breite Treppe, unter der orange Flamingos auf einem Bein im Teich standen, führte zum ersten Stockwerk des Pavillons: auf dem Podest stand ein Käfig mit zwei Löwen, daneben ein Stall mit einem Lamm. Unmittelbar dahinter hing eine enorme Reproduktion von Michelangelos Die Erschaffung des Adam : der mit ausgestrecktem Arm schwebende alte Herr gab den Lebensfunken aus dem Zeigefinger an den mühsam sich aufrichtenden Adam weiter über bunte Lichtbögen, die von Gott wie aus einer Leidener Flasche in Richtung Geschöpf blitzten, und das zu einer ständig wiederholten, aufputschenden Passage in voller Lautstärke aus dem zweiten Aufzug von Prokofj ews Ballett Romeo und Julia.
    »Ich träume!« rief Max. »Ich träume!«
    »Ada!«
    Sie tauchte plötzlich im Strom unbekannter Gesichter vor dem Eingang des Hotel Nacional auf, einem mächtigen Gebäude im alten Stil, rannte ihnen entgegen und fiel in Onnos Arme. Er küßte und herzte sie, von Passanten ermutigt, wie sein Kind. Max küßte sie brüderlich auf beide Wangen.
    »Wie gefällt es euch hier!« rief sie stolz und aufgekratzt.
    Die vierundzwanzig Stunden, die sie auf Kuba war, schienen einen anderen Menschen aus ihr gemacht zu haben: ihr Gesicht strahlte eine Begeisterung aus, die weder Onno noch Max je darauf gesehen hatten. Arm in Arm zwischen den beiden erzählte sie von ihrem Empfang durch einen Vertreter des Freundschaftsinstituts, vom Besuch beim Konservatorium, wo sie auch proben konnten, und von den Begegnungen mit kubanischen und ausländischen Kollegen. Und Bruno habe an diesem Abend eine Verabredung in der Altstadt, mit einem Habanera-Orchester.
    »Das Ganze ist ein einziges großes Fest!«
    Das Hotel war für jedermann offen. In der brechend vollen Hotelhalle sahen sie jetzt nicht nur die deutschen Schriftsteller, die französischen Philosophen, die englischen Dichter und die italienischen Komponisten, der Raum war auch Teil der Straße: durch die eine Tür schlenderte die Bevölkerung gackernd herein, oft im Familienpulk mit kleinen Kindern, und durch die andere wieder hinaus.
    »Das sieht aus wie der Sozialismus«, sagte Onno.
    Ada hatte nicht nur den Schriftsteller gesehen, der an jenem Abend in Amsterdam im Forum

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