Die Entdeckung des Himmels
beiden Freunde plötzlich die niederländische Kultur auf Kuba vertraten. Sie gaben ihre Koffer ab und folgten dem Mädchen zur Galerie, wo sich früher die Boutiquen mit den krokodilledernen Handtaschen und schlangenledernen Schuhen befunden hatten. Manche waren zugenagelt, andere hatten sich in Lagerräume für Handwerker verwandelt. Auf dem Fenster der Verwaltung war noch vage Cartier zu lesen. Mitten in dem Rufen und Drängeln regelte das Mädchen die Formalitäten, händigte Kongreßmappen mit der Aufschrift Primera Conferencia de La Habana und Namensschilder mit den getippten Namen aus: Max Delius , Holanda , Delegado – Onno Quits , Holanda , Delegado.
»Morgen vormittag um neun Uhr ist die offizielle Eröffnung, aber wir würden gerne schon jetzt wissen, welchen Arbeitsgruppen sie zugeordnet werden möchten.«
Während sie wieder in die Hotelhalle gingen und ihre Schilder anhefteten, sagte Onno: »Es gibt bestimmt eine Arbeitsgruppe für den Neuen Menschen. Davon habe ich schrecklich viel Ahnung, denn das bin ich selbst. In einer glühenden Rede werde ich dann Rousseau die Ehre geben, die ihm gebührt, und sei es als unansehnlichem Zwerg in den mächtigen Schlagschatten von Marx und Engels. Der Mensch ist von der Veranlagung her gut, er wird nur schlecht gemacht durch die schlechten Verhältnisse, die folglich verbessert werden müssen.«
Als sie jedoch Platz auf einer weichen Couch gefunden hatten und ihre Mappen öffneten, stellte sich heraus, daß sich die Arbeitsgruppen nicht den kulturphilosophischen Aspekten dieses hohen Ziels widmeten, sondern dessen praktischer Seite: Der bewaffnete Kampf , Die Stadtguerilla , Die Rolle der Bauern bei der Eroberung der Macht , Die kommunistischen Parteien.
Mit offenem Mund sahen sie sich an.
»Mein Gott«, sagte Onno. »Das hier ist gar kein Kultur-Kongreß.«
Sie wühlten die Papiere durch, und eine Minute später war alles klar. Die Konferenz war ein hochpolitisches Treffen von Guerilla-Organisationen aus allen lateinamerikanischen und afrikanischen Ländern und reichte von der vietnamesischen Befreiungsfront über Black Power bis zu den revolutionären Studentengruppierungen aus den westeuropäischen Ländern – und das alles, wie sich aus der lista offi
cial de participantes
ergab, unter Ausschluß der offiziellen moskautreuen Parteikommunisten, auch maoistische Gruppierungen waren nicht eingeladen. Es war ein äußerst exklusives Treffen zu Ehren der Revolution, die aber offenbar nur auf Kuba verwirklicht worden war. Eine niederländische Delegation fehlte auf der Liste.
Das Mädchen am Flughafen war aus irgendeinem Grund offenbar davon überzeugt, daß sie Delegierte waren; und weil die Niederlande nicht auf der Liste vorkamen, obwohl es doch ein Land war, das erst noch befreit werden mußte, hatte sie einen bürokratischen Fehler vermutet und sie eingetragen.
Und jetzt sahen sie auch, was ihnen schon früher hätte auffallen können: in der Halle waren nicht nur nirgends die kulturellen Berühmtheiten zu sehen, mit denen sie geflogen waren, auch sonst fiel niemand hier durch schlaffe, wehrlose, clowneske Gesichtszüge auf, die gemeinhin den Künstler und Intellektuellen verrieten. Die weißen, schwarzen und gelben Gesichter zeigten im Gegenteil einen Ausdruck harter Entschlossenheit, durch den zuweilen eine gewisse Melancholie hindurchschimmerte – vielleicht, weil ihre Härte sich nicht dem Schlechten verdankte, hoffentlich nicht, sondern dem Guten. Manche sahen aus wie asketische Heilige auf einem Gemälde von El Greco. Daneben gab es kubanische Erste Offiziere, commandantes , Majore also, denn alle höheren Dienstgrade waren nach der Revolution abgeschafftworden, Helden der ersten Stunde, alle um die vierzig Jahre alt, die Kampfanzüge ohne Rangabzeichen trugen und sofort erkennbar waren an ihren Bärten und an der Geschäftigkeit um sie herum: ihnen war gelungen, was den anderen erst noch gelingen mußte.
»Wir sind jetzt also«, sagte Max, »promoviert zu Anführern des Umsturzes in den Niederlanden.«
Kaum hatte er das gesagt, überkam ihn ein Lachkrampf. Er ließ sich seitwärts auf die Couch fallen und rang nach Atem: ihr neuer Status inmitten der gefährlichsten und meistgesuchten Männer und Frauen der Welt, mit denen sie hier jetzt in einem Raum zusammen waren, die Filme, die in einer Schleife ununterbrochen dieselben Greueltaten zeigten, die Musik … es war, als sei tief in ihm plötzlich eine Quelle angebohrt worden, aus der das
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