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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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konnte er übersetzen: Wo das Unmögliche zum Alltag wird , findet eine Revolution statt. Er sah zu den lachenden Musikanten auf dem kleinen Podest hinüber und dachte an die üblen Prozeduren an den osteuropäischen Grenzen. Was hatte das hier damit eigentlich zu tun?
    Onno kam mit Grüßen von Ada zurück; sie warte in der Hotelhalle auf sie. Auch das schwarze Mädchen tauchte wieder auf.
    »Alles in Ordnung. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«
    Ihre Pässe bekamen sie noch nicht zurück. Sie mußten ihr Gepäck identifizieren und kamen ohne weitere Kontrollen auf einen ungepflegten Vorplatz, wo die Hitze sie empfing wie ein glühender Klotz. Der Himmel verausgabte sich inzwischen in einem wahren Farbenrausch an einem Sonnenuntergang, wie er in Europa nur von einem geistesgestörten Beleuchtungstechniker erfunden werden konnte, der deswegen aber sofort entlassen würde, und darunter tobte der Verkehr wie auf einer Autoskooterbahn auf dem Jahrmarkt: scheppernde amerikanische Limousinen, keine jünger als zehn Jahre, verrottete, schwarze Rauchwolken ausstoßende Busse, jeder Busfahrer mit der Hand auf der Hupe.
    »Jesus!« rief das Mädchen und winkte.
    Ein zerbeulter schwarzer Chrysler fuhr knatternd auf sie zu; die Windschutzscheibe hatte einen Sprung, und ein Kotflügel fehlte. Sie gab dem kleinen Mulatten am Steuer einen Umschlag mit Genehmigungen und trug ihm auf, los compa-
    ñeros ins Hotel Habana Libre zu fahren.
    »Und was ist das für ein Hotel?« fragte Onno. »Was kostet es?«
    »Machen Sie sich keine Sorgen, wir haben angerufen. Alles ist geregelt. Sie sind Gast der Revolution.«
    Onno wollte noch etwas sagen, aber mit einem engelsgleichen Lächeln verschwand sie im Flughafengebäude. Sie legten ihr Gepäck in den Kofferraum, und als Jesus mit einem Knall den Deckel zuschlug, fiel die offenstehende linke Vordertür auf die Straße. Er fluchte, spuckte die Zigarette aus, fing an zu lachen und legte zusammen mit Onno auch die Tür in den Kofferraum. Er trug ein graues, löcheriges T-Shirt, eine schlotternde Hose und Sandalen. Ratternd wie eine alte Kaffeemühle setzte sich das Auto in Bewegung, auf dem Armaturenbrett jedoch blieben alle Zeiger phlegmatisch auf Null stehen. Max und Onno suchten sich zwischen den Sprungfedern der aufgerissenen Sitze einen Platz, und kurz darauf bogen sie in die Straße nach Havanna ein. Da Kuba offenbar keinen Dämmerzustand mochte, war es plötzlich nahezu Nacht.
    Links und rechts sah man weiße und schwarze Schüler, Arbeiter, Frauen, die sich mit Fächern Kühle verschafften.
    »Wir sind jetzt also«, sagte Max mit wehendem Haar, »die niederländische Delegation des Kultur-Kongresses. Wenn wir wollen, bekommen wir unsere Reisekosten zurückerstattet.«
    »Ja, und das genau ist schlicht unmöglich. Was sollen wir sagen, wenn man uns fragt, was für Kulturträger wir sind?«
    » Compañeros !« hob Max rhetorisch an. »Auch die revolutionären Erkenntnisse über Entstehung und Entwicklung des Weltalls entsprechen den dialektischen Gesetzen von Marx und Engels!« Und dann, in einem anderen Ton: »Weiß Gott, vielleicht stimmt es ja auch. Es gab einen berühmten sowjetischen Biologen, Oparin, einen echten Marxisten, der bahnbrechende Veröffentlichungen über die Entstehung des Lebens gemacht hat – und was für die Entstehung des Lebens gilt, gilt in analoger Weise vielleicht auch für die Entstehung des Alls.«
    »Du hast deine Geschichte ja schon fertig. Aber ich? Was soll ich sagen?«
    »Daß du die gesellschaftlich äußerst relevante Entdeckung gemacht hast, daß die Syntax aller modernen Sprachen die Unterdrückungsmechanismen der Klassenverhältnisse widerspiegelt. Wie ich dich kenne, wirst du das im Handumdrehen beweisen können.«
    »Eine interessante These! Darf ich dann auch einen sowjetischen Gelehrten ins Spiel bringen? Was du jetzt sagst, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem, was von dem Sprachwissenschaftler N. J. Marr behauptet worden ist, und dagegen hat J. W. Stalin persönlich ein nicht gänzlich unvernünftiges Pamphlet geschrieben. Im Vergleich zu den Schriften von A. Hitler ist es auf jeden Fall ein Wunder an Genialität.« Sorgenvoll sah Onno hinaus. »Wir scherzen hier zwar, aber mittlerweile sitzen wir in der Falle, M. Delius. Vielleicht sollten wir sagen, wir seien Dichter. Das kann keiner überprüfen. Gedichte sind unübersetzbar.«
    »Was kann uns schon passieren? Wir haben uns doch keinem aufgedrängt – wir wurden hineingedrängt, von

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