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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Meer. Da er die kalte Nordsee und das kühle Mittelmeer gewohnt war, war er auf ein laues Bad nicht vorbereitet. Mit einem Schrei der Wonne kam er hoch und ließ sich sofort wieder rücklings fallen. Das konnte nicht wahr sein! In einem solchen Meer war das Leben entstanden! Er winkte Ada zu, die ihr Handtuch ausbreitete, aber sie machte eine Geste, daß sie später kommen würde. Wie ein kleines Kind im Babybecken planschte er im Wasser herum, sprang hoch, tauchte unter, und daß er vorhin noch Kopfschmerzen gehabt hatte, hatte er längst vergessen. Er setzte die Brille auf, und für die Dauer einer einzigen Sekunde breitete sich die Welt aus, von der er sonst nur in seinen Träumen etwas gesehen hatte: wiegende Stille, zu Pflanzen gewordene Bewegung, auf Stelzen umherwandelndes Licht, Spektralfarben aus Fischen, in die plötzlich wie die Verdammnis ein riesiger Pelikan durch das blendende Himmelsdach einschlug und seine Beute aufnahm – bis seine Brille, die noch aus der Zeit vor der Revolution stammten mußte, voll mit Wasser lief und er zurück in die Sonne mußte.
    Auch Marilyn hatte sich ihrer Kalaschnikow entledigt und saß im Bikini neben Ada auf einem Handtuch. Die Bewachung wurde hier offenbar von anderen besorgt. Guerra war auf der Veranda geblieben, wo er sich mit Jesus und dem chinesischen Hausmeister unterhielt, der die Füße auf den Tisch gelegt hatte; eine dicke schwarze Frau mit weißer Schürze fegte die Fliesen. Er setzte sich auf die andere Seite neben Marilyn. Die nackte Haut ihrer Arme, der Beine und des Bauches wirkte auch ohne Maschinenpistole anders, als wenn er sie nie mit einer Waffe gesehen hätte; dann wäre sie einfach eine junge Frau im Bikini gewesen, wie Ada; aber dadurch, daß die Maschinenpistole jetzt fehlte, war sie in gewisser Weise noch stärker präsent. War es das, wodurch sich eine bestimmte Art von Frauen von Soldaten angezogen fühlte: daß sie sich schließlich für sie entwaffnen mußten? War es vielleicht auch eine Art Rechtfertigung für die Frauen, die im Krieg mit deutschen Soldaten geschlafen hatten? Waren sie im Grunde genommen Widerstandskämpferinnen, nach dem Krieg zu Unrecht kahlgeschoren? Solange der Feind auf einer Frau lag, konnte er ja nicht schießen!
    Es störte ihn, daß er an den Krieg dachte. Er legte sich auf den Rücken, verschränkte die Hände unter seinem Kopf und fragte auf englisch:
    »Was Fidel jetzt wohl macht?«
    »Auf jeden Fall nicht sonnenbaden«, sagte Ada. »Das hat er noch nie gemacht.«
    »Ich habe ihn gesehen. Mein Leben ist gelungen. Von jetzt an kann es nur noch abwärts gehen.«
    Marilyn drehte den Kopf über die Schulter und sah ihn forschend an.
    »Was für eine Art von Scherz ist das denn?«
    »Warum meinst du, daß es ein Scherz ist? Vielleicht ist es ja gar kein Scherz. Vielleicht ist es ein Scherz, der gar keiner ist.«
    »Jetzt redest du wie Onno«, sagte Ada.
    Er sah in Marilyns Augen und spürte, daß er auf der Hut bleiben sollte. Daß auf Kuba die Revolution nicht ganz ohne witzige Züge war, war ihm wiederholt aufgefallen, aber bei den Ausländern auf der Konferenz hatte er davon wenig gespürt, so wenig wie damals in Osteuropa – und hier saß jetzt eine Amerikanerin. Aber es reizte ihn zugleich, und er verspürte Lust, sie aufzuziehen.
    »Vielleicht sollten wir alles unter einer anderen Perspektive sehen.«
    »Welcher anderen Perspektive?«
    »Der der Ewigkeit.«
    Diesmal schien sie mehr herauszuhören, als er selbst hineingelegt hatte. Sie legte sich auf den Bauch und sagte didaktisch: »Die Ewigkeit und die Perspektive gehen nicht zusammen.
    Darf ich dich mal über etwas aufk lären, mein holländischer Max? Die Perspektive wurde im fünfzehnten Jahrhundert erfunden. Vor dieser Zeit befand sich Gott immer ganz selbstverständlich im Raum des Gemäldes – einer Madonna mit dem Kind beispielsweise –, aber dieser Raum war per se unnatürlich. Gott saß einfach auf einem Thron im blauen Himmel, über der Madonna, mit ein paar Kreisen und Sternen um sich herum. Oder man sah links den heiligen Dionysius mit bunter Mitra in einem Kerker, rechts, wie ihm der Kopf abgeschlagen wurde, und in der Mitte Christus Hunderte von Jahren vorher, nackt am Kreuz, umringt von den zwölf Aposteln im Bischofsgewand: das alles ganz natürlich in einem einzigen unmöglichen Raum in einem einzigen unmöglichen Augenblick. Aber mit der Erfindung der Zentralperspektive wurden der natürliche Raum und die natürliche Zeit erst definiert.

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