Die Entdeckung des Himmels
Guerra streckte den Nacken, und Marilyn setzte sich gerade hin. Fünf Herzen schlugen plötzlich schneller, weil eine bestimmte Person offenbar ganz nah war, ein Mann wie alle anderen, aus Fleisch und Blut, mit zwei Augen, zwei Ohren, zwei Armen und zwei Beinen, und zugleich ein ganz besonderer Mann: der Befreier seines Volkes, die Geschichte in Person. Max sah über Jesus’ Schulter auf die langsam fahrende Kolonne. Antennen, der Lauf eines automatischen Gewehrs und da und dort Beine, die halb heraushingen. Irgendwo dort war er, dort bewegte sich die Macht fort. Guerra sagte, daß er immer so reise, oder besser: daß er ununterbrochen in Autos oder Hubschraubern auf der Insel umherzöge; weder in Havanna noch sonstwo habe er so etwas wie eine Residenz oder ein Departement, sein Departement sei das da, dort seien all seine Vertrauten; sie kennten alles und jeden, schliefen in Kasernen, bei Bauern oder in Hängematten zwischen den Bäumen. Diese Ruhelosigkeit sei ein Erbe der Guerilla; Che habe sie sogar aus dem Land getrieben. Niemand wisse je, wo er sich aufh alte, er tauche überall unvermittelt auf, und das komme natürlich auch seiner Sicherheit zugute, denn es gebe eine Menge Leute, die ihn am liebsten tot sähen.
Als der Soldat mit dem Funkgerät eine Geste machte, daß sie überholen konnten, fragte sich Max, ob da nicht vielleicht sogar leichtsinnig entschieden worden sei. Auf dem Beifahrersitz saß eine Amerikanerin mit schußbereiter Feuerwaffe: wer sagte ihnen, daß jetzt nicht der teuflisch ausgedachte Mordanschlag der CIA zur Ausführung kam, unter zynischer Aufopferung einer Cellistin und eines vielversprechenden Astronomen? Die Erklärung dafür war vielleicht, daß ihre Wachsamkeit frei von Angst war. Allerdings erschienen immer wieder Hände, die ihnen bedeuteten, schneller zu fahren. Max beugte sich weit über Adas Schoß, um auch ja nichts zu verpassen, Guerra lehnte sich zurück, um seine Aussicht nicht zu stören, aber es ging zu schnell, um viel sehen zu können. Ein Militärfahrzeug nach dem anderen, ein Küchenwagen, ein Hospitalwagen, ein Funkwagen, und dann plötzlich eine Reihe Jeeps mit comandantes und anderen Offizieren. Dann sah er ihn einen Augenblick lang im vorderen Wagen sitzen, neben einem schwarzen Fahrer, er trug eine Brille mit dunkler Fassung und las in Papieren, auf einem Stahlrost über den Knien eine Maschinenpistole.
Wie ein Gral des tiefb lauen Blutes lag die Bucht unter dem wolkenlosen Himmel. Max und Ada standen neben dem Auto und sahen sprachlos Dutzenden von großen, weißen Pelikanen zu, die mit ihren langen Schnäbeln hoch über die Wellen flogen, sich plötzlich wie Seeminen senkrecht ins Wasser fallen ließen und verschwanden, um kurz darauf triefend und mit zappelnden Beuteln wieder aufzutauchen und ihren Flug fortzusetzen. Es schien, als verwandelten diese unaufh örlichen senkrechten Bewegungen wie schlanke, unsichtbare Säulen den Raum in einen geschlossenen Kuppelsaal. Der Wald reichte bis zum Sandstrand, und es sah aus, als ob die Bäume keine Schatten würfen, sondern der Schatten die Bäume trüge.
Kein Blatt regte sich.
»Das ist nicht mehr von dieser Welt«, sagte Ada.
Ein Stück weiter war der Strand voll, aber hier saßen nur einige bekannte linke Künstler und Intellektuelle in der Sonne.
Versteckt zwischen den Bäumen standen luxuriöse, aber verfallende Bungalows, die, wie Guerra meldete, früher für zwei Monate im Jahr von kubanischen und amerikanischen Bordellbesitzern und Kokainhändlern bewohnt wurden, jetzt aber als Gästehäuser verschiedener Organisationen dienten.
Die Landhäuser am freien Strand seien der Bevölkerung zur Verfügung gestellt worden.
Auf der schattigen Veranda eines der Bungalows wurde von einem chinesischen Kubaner in einer weißen Jacke ein Mittagessen serviert: Gazpacho, gegrillter Schwertfisch mit einem trockenen Weißwein, süßes Haselnußeis und Kaffee. Als Max aufstand, um sich die Badehose anzuziehen, fragte er Ada, ob sie auch den Eindruck habe, daß er und Onno als Betrüger enttarnt worden seien.
»Ach, du spinnst«, sagte sie. »Das ist nur dein schlechtes Gewissen.«
»Meinst du?«
»Natürlich. Aber ihr müßt das schon mal klären.«
»Ich hoffe, du hast recht.«
Ihre Bemerkung und der Wein hatten ihn beruhigt. Auf einem Stuhl lag eine Taucherbrille, und sowie er die Badehose hochgezogen hatte, rannte er über den glühendheißen, samtigen Sand zur Brandung und tauchte mit der Brille am Arm ins
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