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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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möglich.«
    »Sicher«, sagte Guerra, »wenn Sie das wünschen …«
    »Das ist doch wohl eine Schnapsidee, Max«, sagte Ada mit einer mädchenhaften Geste ihres Ellbogens, »ich denke gar nicht daran. Morgen geht mein Flugzeug. Und auch Onno gegenüber scheint es mir nicht besonders nett zu sein. Wir sollten im Gegenteil langsam aufb rechen.«
    Max nickte mit geschlossenen Augen, zum Zeichen, daß die Gemütswallung schon vorüber war, und legte Messer und Gabel hin.
    »Soll ich dir was sagen, Marilyn? Glaub es oder glaub es nicht, aber jetzt bin ich glücklich. Denn ich weiß, daß ich eines Tages an diesen Abend zurückdenken werde in dem Bewußtsein, damals glücklich gewesen zu sein. Vielleicht kann man nur durch diesen Spiegel glücklich sein. Eines Tages werde ich im Sterben liegen mit dem Wissen, daß ich nie mehr aufstehen werde, und dann wird der Gedanke an diesen Abend meinen Tod möglicherweise erleichtern.« Er nahm einen Schluck, schluckte ihn aber noch nicht hinunter. Mit der Zunge spielte er durch den Wein, dessen Duft ihm jetzt von innen heraus in die Nase stieg, und es kam ihm so vor, als ob diese wenigen Kubikzentimeter in der Dunkelheit seines Mundes auf irgendeine Weise die ganze Welt enthielten, wie ein Tautropfen an einem Grashalm, der die Landschaft widerspiegelt. Er schluckte den Wein hinunter und sagte: »Ich habe eine Vision.«
    »Erzähl«, sagte Ada.
    »Ich sehe einen deutschen Soldaten in der russischen Steppe, vor fünfundzwanzig Jahren. Ihr müßt nämlich wissen, daß bei uns damals in Europa Krieg war, aber das würde jetzt zu weit führen. Er ist etwa zwanzig, es hat vierzig Grad unter Null, und zwischen zerschossenen Panzern und gefrorenen Pferdekadavern liegt er rücklings im pfeifenden Schneesturm.
    Ein glühender Granatsplitter zischt in seinen Eingeweiden.
    Und in seinen letzten Augenblicken hat auch er plötzlich eine Vision. Er sieht auf einer Veranda an einer märchenhaften Bucht einen Tisch, es ist Abend, die Tafel ist voll mit Speisen und Wein, und es ist so warm, daß zwei bildschöne Frauen nur ein luftiges Hemd tragen …«
    Es blieb kurz still. Ada warf Marilyn einen Blick zu, aus dem zu lesen war, daß jetzt ein Problem aufgetaucht war.
    »Und warum«, fragte Guerra, während er sich zur Seite neigte, weil der chinesische Hausmeister seinen Teller abräumte, »erscheinen wir in der Vision eines faschistischen Soldaten und nicht in der eines sowjetrussischen?«
    Max stöhnte.
    »Sie haben recht, aber ich kann doch meine Visionen nicht erzwingen. Es ist doch seine Vision.«
    Guerra lächelte. »Als Dialektiker an der Kaderschule würden Sie keine schlechte Figur abgeben.«
    »Wenn Sie mir versichern, daß auch dort die Visionen nicht erzwungen werden, bewerbe ich mich hiermit für diese Stelle.«
    »Wir erzwingen nichts. Das neue Kuba an sich ist schon eine Vision.«
    »Das ist dann also klar«, sagte Max zu Ada, »jetzt bleibe ich hier.«
    Alle drei sahen ihn an, und plötzlich fühlte er sich unbehaglich. Redete er zuviel? Es war, als entstünde ein Abstand zwischen ihm und den anderen, und plötzlich fühlte er sich im Stich gelassen. Da die Kopfschmerzen sich wieder bemerkbar machten, faltete er seine Hände zu einer Schale und bat Ada, etwas Eiswasser aus der Karaffe hineinzugießen, woraufh in er die Beine spreizte und sein Gesicht hineinhielt.
    »Fühlst du dich nicht wohl?«
    »Kleiner Schwächeanfall«, sagte er mit tropfendem Gesicht.
    »Gleich vorbei.« Er stand auf und wußte erst, was er sagen wollte, als er es schon sagte: »Soll ich Onno kurz anrufen?
    Daß wir in ein paar Stunden zu Hause sein werden?«
    »Soll ich es machen?«
    »Laß mich nur.«
    Ohne sich abzutrocknen, ging er ins Haus, die schwarze Haushälterin zeigte ihm im Flur das Telefon. An einer Stuhllehne hing Marilyns Maschinenpistole. Da hing ihre eigentliche Identität. Er hatte sich in ihr getäuscht, er mußte aufh ören, sonst würde er sich an ihr die Zähne ausbeißen, und er spürte bereits so etwas wie eine Verhärtung in seinem Inneren.
    Da Onno vermutlich noch bei Tisch war, ließ er ihn auf der Terrasse des Restaurants ausrufen, doch er war nicht da; auf seinem Zimmer wurde das Telefon nicht abgenommen.
    Gerade als er auflegen wollte, hörte er seine leise, heisere Stimme: »Si?«
    »Was ist denn los? Hier Max. Hast du geschlafen?«
    »Ja. Du hast mich geweckt. Was ist los? Ich möchte mit niemandem sprechen. Auch nicht mit dir.«
    »Was ist passiert?«
    »Das geht dich nichts

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