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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Jemand auf einem Stuhl in der Luft würde hinunterfallen, und was nacheinander war, konnte nicht gleichzeitig passieren.
    Das war der Anfang vom Ende der Ewigkeit.«
    Verblüfft hörte er ihren Erläuterungen zu. Es schien, als gäbe sie eine Zusammenfassung ihrer Doktorarbeit.
    »Willst du vielleicht damit sagen, daß sich seitdem von himmlischer Seite nichts mehr durch den perspektivischen Fluchtpunkt in diese Welt hineingezwängt hat?«
    »Solchen Unsinn wirst du von mir nicht hören.«
    »Schade.«
    »Es gibt keine himmlische Seite des Fluchtpunkts.«
    »Woher willst du das wissen? Vielleicht kann er nur nicht mehr mit künstlerischem Anstand sichtbar gemacht werden, aber deswegen kann es ihn doch möglicherweise noch geben.«
    Er sagte es, um sie zu ärgern, aber dafür hatte sie offensichtlich keinen Sinn.
    »Wenn du mich fragst, ist das alles leeres Geschwätz. Nur Raum und Zeit sind ewig.«
    »Und vermutlich nicht einmal das.« Er legte sich ebenfalls auf den Bauch. »In der Astronomie wird daran, glaube ich, manchmal gezweifelt. Übrigens, wenn ich jetzt an Michelangelos Erschaffung des Adam denke, die auf der Rampa hängt – das ist doch auch auf die Zeit nach der Erfindung der Perspektive datiert?«
    »Folglich muß Gott notwendigerweise schweben , im natürlichen Raum, auf dieser Seite des Fluchtpunktes, der keine andere hat. Das ist kein glaubwürdiger Gott mehr, sondern eine blendende Imagination eines Mannes, der die Naturgesetze besiegt hat.«
    »Statt sie erschaffen zu haben«, nickte Max. »Ja, warte mal, heutzutage –«
    »Ja, ich weiß, was du sagen willst.«
    »So? Nämlich?«
    »Daß die moderne Kunst sich von der Perspektive wieder entfernt hat.«
    »Genau. Zum Beispiel Picasso. Bei ihm sieht man keine nichtgleichzeitigen Ereignisse wie auf mittelalterlichen Gemälden, wohl aber räumliche Unmöglichkeiten, wie zum Beispiel die gleichzeitige Vorder- und Seitenansicht eines Gesichts. Und in der Relativitätstheorie, habe ich einmal gehört, findet man all diese Bizarrheiten des Raumes und der Zeit mit einer wissenschaftlichen Begründung wieder.«
    »Aber Gott ist nicht wieder zum Vorschein gekommen.
    Wenn es noch eine andere Seite des Fluchtpunktes gibt, dann ist er dort zwischenzeitlich erstickt. Dann liegt nur noch sein Kadaver im Himmel und stinkt.«
    »Meiner Meinung nach hat sich da nichts geändert, denn in der Ewigkeit kann sich nichts ändern. Die Ewigkeit ist genau das gleiche wie der Augenblick. Der Fluchtpunkt ist die Himmelspforte, wo Petrus mit seinem Schlüssel steht. Den können wir ihm vermutlich nicht abnehmen, aber wenn du mich fragst, kannst du dir mit deiner Maschinenpistole leicht einen Weg durch diesen Punkt bahnen. Und ich schlüpfe dann gleich hinter dir her.«
    »Also, ich finde das zwar alles ganz nett, was du da erzählst, aber du willst mir doch jetzt nicht weismachen, daß du religiös bist?«
    »Natürlich nicht.«
    »Willst du es mir nicht erzählen, oder bist du es nicht?«
    »Vielleicht ist Einstein Gott, er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm. Ein Stein der Weisen. « Max seufzte tief. Er grub seine Hände in den heißen Sand bis dahin, wo er etwas kühler wurde. »Ich erinnere mich noch genau daran, als er neunzehnfünfundfünfzig starb; ich war damals zweiundzwanzig und hatte das Gefühl, als hätte ich meinen Vater verloren. Abgesehen davon, liebe Marilyn, erlaube ich mir manchmal einen Scherz. Ich weiß, daß das nach Meinung so strenger Denker wie dir unpassend ist, aber so bin ich nun mal. Außerdem bin ich jetzt doch auf Kuba. Genau wie du glaube ich, daß es möglich sein muß, eine gerechte Gesellschaft auf Erden zu errichten. So religiös bin ich tatsächlich noch – genau wie du. Und wenn Fidel das gelingt, auch wenn es nur ein Stückchen davon ist, will ich ihm sozusagen gerne einen Abglanz von dem sogenannten Göttlichen zuerkennen. Oder vielleicht hat er das schon für all die Mühe verdient, auch wenn es nicht gelingt. Es hängt mit Sicherheit etwas Apostolisches um ihn herum, dafür habe ich einen absoluten Riecher.«
    Er wollte auf niederländisch zu Ada sagen, daß hier endlich jemand war, der die Kunstgeschichte ernst nahm und dabei ein Gewehr in die Hand nahm; aber da es unverschämt gewesen wäre, plötzlich Geheimsprache zu verwenden, legte er den Kopf auf die Arme und schloß die Augen. Es tat ihm leid, daß Onno nicht da war; er hätte bestimmt einiges anzumerken gehabt. Vielleicht hätte er sie gelobt, daß sie nicht die

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