Die Entdeckung des Lichts
»Wenn man ihnen mehr Geld gibt, arbeiten sie doch gar nicht mehr.«
»Wenn man ihnen mehr Geld gibt«, sagte der erste Mann, dessen Zungenschlag Faraday nun als Deutsch erkannte, »können sie endlich ihr Leben bestreiten, sie geben das Geld schließlich aus. Sie werden unter anderem besser wohnen wollen, sie werden Möbel kaufen, Kleider, was anderen Arbeit und Einkommen bringt, und das System kommt ins Gleichgewicht. Man muss sie beteiligen.«
Er sah Faraday an.
»Wenn die Unternehmer nicht profitabel wirtschaften können«, meinte der Mann mit dem Hut mit sauberer Aussprache, »kommt alles ins Stocken. Wenn es sich nicht lohnt, dann investiert niemand mehr, niemand übernimmt mehr Verantwortung, und niemand hat Arbeit.«
»Wenn niemand etwas kaufen kann, dann lohnt es sich nicht«, sagte der Deutsche. Für so eine Diskussion war Faraday nicht so weit heraufgekommen, egal wie angenehm die Fahrt mit dem Zug auch gewesen war.
»Ansichtssache ist das nicht«, wollte der Deutsche von ihm bestätigt haben, aber Faraday sagte nur, das eine Extrem sei in der Regel so falsch wie das andere, und in dem Moment stieß Roberts zu ihnen, der in der Gruppe mit Lyell gewesen war.
»Darf ich vorstellen«, sagte er trocken zum Herrn mit dem Hut: »William Nassau, Professor für politische Ökonomie«, und Nassau fügte an: »Oxford«. Roberts wies gleichzeitig freundlich auf den Deutschen: »Friedrich Engels.«
»Die Revolution kommt«, sagte der, »man kann sie berechnen.«
Faraday berührte mit der Zungenspitze den schmerzenden Zahn, dann das Zahnfleisch innen und außen, es hatte sich eine Beule gebildet. Es reichte, die Zunge auf den Zahn zu legen und sehr leicht zuzubeißen, um den Schmerz aufschießen zu lassen.
Er war froh, dass nun auch der mit schwarzem Staub bedeckte Lyell herangelaufen kam. Er hatte einen Herrn mit Schirm bei sich. Jetzt bemerkte Faraday, wie schmutzig er selbst war. Alle empfahlen sich höflichst, und als Paare gingen sie auseinander, Roberts und Engels aufgeregt redend, die Naturwissenschaftler nachdenkend und daher schweigsam. Nur der Ökonom ging nach förmlichem Gruß, den Faraday aus mangelnder Aufmerksamkeit verpasste, allein seines Weges.
Erst auf der Rückfahrt, nachdem man sich im Gutachten wie absehbar auf einen Unfall geeinigt hatte, der den Verlust der fünf-undneunzig Leben verursacht hatte, kamen sie wieder auf die Auseinandersetzung zu sprechen.
»Revolution«, meinte Faraday nur kurz angebunden, und hielt sich die Hand an den schmerzenden Unterkiefer, »ist wie ein Blitz im Gewitter. Der schlägt mal da ein und mal da. Das kann man nicht vorhersagen.« Man sollte seiner Meinung nach weder zu viel spekulieren, noch sich seiner Sache zu sicher sein.
Lyell lächelte.
»Schon früher«, ereiferte sich Faraday, wie es Lyell an ihm nicht kannte, »waren sich alle ihrer Sache sicher, nur die Weisen nicht. Zuerst waren Erde, Luft, Feuer und Wasser die Wahrheit, dann Salz, Schwefel und Quecksilber, dann Phlogiston. Dann Oxosäuren und Sauerstoff. Nun Atome? Wir können uns der Fakten sicher sein, aber niemals ihrer Interpretation. Man muss schon einen Fakt für einen Fakt nehmen können und eine Annahme für eine Annahme und sollte sich von Vorurteilen immer wieder freihalten. Und wo das nicht möglich ist, wie in der Theorie, soll man nicht vergessen, dass es sich um Theorie handelt.«
Die um ihn herum redenden Menschen, die der Zug zu ihren Zielen transportierte, die Arbeiter, die gestern für bessere Bedingungen gestritten hatten, die anderen, denen alles egal war, die Besitzenden, die sich an ihre Vorteile klammerten und sie für die Grundlagen der Gesellschaft hielten, der Regen und die Kälte, eine Zeitung, der Zahnschmerz, eine Kirche, an welcher sie im Augenblick vorbeifuhren, die Erwartungen an ihn, samt der Überlegungen, ob sie erfüllbar waren oder nicht, Höflichkeiten, Floskeln, Grobheiten, der wissenschaftliche Fortschritt, den seine Freunde und Kollegen an ihn herantrugen – alles war Lärm für ihn.
Lyell sah ihn besorgt an, fragend.
»Wir werden elektrische Maschinen bauen«, sagte er deshalb, »die können die Kohle aus den Minen holen. Sobald wir eine Stromquelle haben.«
Lyell sah ihn weiterhin besorgt an: »Arme wird es immer geben.«
»Immer weniger«, meinte Faraday und wusste selbst nicht, ob er daran glaubte, aber er wollte daran glauben: »Je mehr Bildung unters Volk kommt.«
Lyell sah ihn immer noch besorgt an, aber auch das war Lärm, nicht
Weitere Kostenlose Bücher