Die Entfuehrten
umgeworfen habe, hat sie das nicht gesagt.
Die Auseinandersetzung darüber, ob Katherine mitkommen oder zu Hause bleiben sollte, hatte sich drei Tage lang hingezogen. Dann waren Mom und Dad unerklärlicherweise eingeknickt. Normalerweise gaben sie Katherine gegenüber nicht so leicht nach. Jonas fragte sich, was Katherine ihnen dafür versprochen hatte: dass sie für den Rest des Schuljahres jeden Abend nach dem Essen die Küche aufräumen würde? Dass sie nie mehr jammern würde, wenn sie ihre Hausaufgaben erledigen musste? Oder dass sie sich keinen festen Freund zulegen würde, ehe sie aufs College ging?
Irgendetwas piepste und Jonas zuckte zusammen. Na gut, das war ein wenig übertrieben, denn das Geräusch kam von Katherine, die auf ihrem Handy Tetris spielte. (Auf
unserem
Handy, korrigierte er sich.) Wieder spürte er Ärger in sich aufsteigen, stärker als zuvor. Er saß da und starrte auf eine Tür, die vielleicht sämtlicheGeheimnisse seines Lebens verbarg. Und Katherine hockte da und spielte ein Computerspiel?
Die Tür ging auf und ein Mann trat ein. Allerdings trug er ein graues Sweatshirt mit der Aufschrift:
Wartungs- & Reinigungsservice.
Es war ein Hausmeister.
»Hallo«, sagte er. »Möchte von Ihnen vielleicht jemand etwas trinken, während Sie warten? Der Getränkeautomat hat aus Versehen zwei Flaschen
Mountain Dew
ausgespuckt und ich brauche nur eine.«
»Jonas trinkt gern
Mountain Dew
«, sagte Katherine und pausierte mit ihrem Tetrisspiel gerade lange genug, um auf ihren Bruder zu zeigen.
Der Hausmeister hielt Jonas eine grüne Flasche hin.
»Sie sollten wohl besser die Automatenfirma anrufen«, sagte Mom. »Wenn die Maschine so schlecht funktioniert, kommt vielleicht gar nichts heraus, wenn Sie das nächste Mal Geld einwerfen. Außerdem . . .«, sie begann in ihrer Tasche zu kramen, ». . . können wir für die Flasche bezahlen, wenn Jonas sie gern trinken möchte.«
»Nein, nein, ist schon in Ordnung«, sagte der Hausmeister. »Ich hab schon früher Geld reingesteckt und nichts rausbekommen. Also sind beide Flaschen bezahlt. Lass es dir schmecken, Junge.« Vorsichtig warf er Jonas die Flasche zu und dieser fing sie auf.
Jonas mochte
Mountain Dew
wirklich. An seinem zehnten Geburtstag hatte er für eine Wette eine komplette Zweiliterflasche geleert. Außerdem hatte er Durst.Aber irgendetwas an dieser Szene kam ihm seltsam und unecht vor, wie in einer Limonadenwerbung, wo die Leute einen Schluck tranken und plötzlich anfingen zu tanzen, zu singen und wildfremde Menschen zu umarmen. Lief hier irgendwo eine versteckte Kamera mit? Sollte er am Ende vielleicht eine Bewertung abgeben?
Ich saß da und war schlecht drauf, weil ich ein bisschen Angst hatte und mich fragte, wer ich wirklich bin. Da drückt Buster mir diese Flasche
Mountain Dew
in die Hand und, boah, plötzlich wird mir klar, dass das alles überhaupt keine Rolle spielt, weil wir tief drinnen doch alle Brüder sind.
Er und der Hausmeister würden dabei Arm in Arm dastehen, hinter ihnen eine Formation tanzender Mädchen, Vogelgezwitscher über ihren Köpfen, während sich der öde Warteraum um sie herum in eine wunderschöne Wiese verwandelte.
Der Hausmeister verschwand wieder durch die Tür. Also doch keine tanzenden Mädchen und zwitschernden Vögel. Mom kramte immer noch sinnlos in ihrer Tasche herum und das alles nur, weil sie und Dad immer predigten, nur ja keine Gefälligkeiten anzunehmen. Man könnte meinen, sie wollten uns gerade noch mal die alte »Nimm keine Süßigkeiten von Fremden«-Lektion einbläuen, dachte Jonas. Misstrauisch starrte er die Flasche an. Die Limonade könnte vergiftet sein. Vielleicht enthielt sie ein gefährliches Betäubungsmittel, und ehe er sich versah, wachte er geknebelt und gefesselt in einem dunklen Zimmer auf. Vielleichtwar James Reardon ein Kidnapper; vielleicht war er es, der ihm und Chip diese seltsamen Briefe geschickt hatte, vielleicht . . .
Jonas bemerkte, dass die Verschlusskappe der Flasche unangebrochen und der Plastikring an ihrem unteren Ende noch nicht abgedreht war.
Du bist so was von gestört, schalt er sich selbst. Mom und Dad sind nicht misstrauisch, weil es keinen Grund für Misstrauen gibt. Du hast Durst und jemand war so freundlich, dir eine Flasche
Mountain Dew
zu schenken – also trink sie!
Jonas schraubte den Deckel ab, setzte die Flasche an die Lippen und trank einen Schluck. Sein Dad neben ihm tätschelte ihm aufmunternd das Bein.
Als die Tür das nächste Mal
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