Die Entfuehrung
gebaut war. Eine kleine Holzleiter verband die beiden Ebenen.
»Wow«, sagte er beeindruckt. »Ist ja genial. Wer hat das gebaut?«
»Ich«, sagte Tibby Rose. »Allerdings habe ich vorher ein Buch übers Tischlern gelesen.« Sie zog an einem Seil, das eine zweite, größere Leiter auf die Erde herunterließ. Die beiden Mäuse stiegen hinauf und setzten sich auf die untere Ebene des Baumhauses. Von hier aus hatten sie freie Sicht auf die vordere Veranda und die Straße, die sich den Berg hinunterschlängelte und eine Lücke im Buschwerk bildete. Jenseits der Straße lag Tempelton wie eine Spielzeugstadt vor ihnen, bestehend aus ordentlichen kleinen Gebäudenund Häusern, einigen Bauernhöfen mit Feldern und einem Fluss, der sich in der Ferne verlor.
»So«, sagte Tibby Rose mit gedämpfter Stimme, »das war nur eine Ausrede, um Großtante Harriet zu entkommen, damit wir uns unterhalten können. Du weißt also wirklich nicht, was du hier machst?«
»Ich hab keinen Schimmer«, sagte Alistair. »Ich möchte einfach nur wissen, wie ich nach Hause komme. Möglichst ohne die Mithilfe der Königlichen Wachen. So, wie dein Großvater und deine Großtante über die geredet haben, vermute ich mal, dass sie rotbraune Mäuse nicht mögen – auch wenn ich nicht verstehe, was mit denen anders sein soll.«
»Stimmt, das war seltsam«, pflichtete ihm Tibby Rose bei. »Und was sollte das ganze Zeug mit der Überwachung – und dass Großvater in die Stadt geht, um mit jemandem namens Granville zu reden? Ich wusste gar nicht, dass meine Mutter einen Patenonkel hatte. Wieso habe ich ihn nie kennengelernt?«
»Sie klingen wie Spione«, sagte Alistair. »Und dann noch, dass deine Großtante gesagt hat, du müsstest um jeden Preis beschützt werden. Was sollte denn das alles?«
Tibby zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Also, ich muss schon sagen, dass sie ein bisschen zu überängstlich sind. Ich darf nicht in die Stadt, ich darf nicht in die Schule ...«
Alistair starrte sie verdutzt an. »Klingt ja, als ob du das Haus nie verlässt!«
»Tu ich auch nicht«, sagte Tibby.
»Bist du so ’ne Art Gefangene?«
»Nein! Na ja, vielleicht schon, irgendwie«, räumte sie ein. Sie schien selbst überrascht von der Vorstellung. »Obwohl ich es bisher noch nie so gesehen habe.«
Alistair schüttelte den Kopf. »Hör mal, ich finde, ich sollte jetzt besser verschwinden«, sagte er. »Deine Großtante scheint mir sehr misstrauisch zu sein und ich will keinem Unannehmlichkeiten bereiten. Ich will einfach nur zurück nach Smiggins.«
»Nein, warte«, sagte Tibby Rose. »Geh nicht fort! Bleib ein bisschen. Wenigstens, bis Großvater Nelson mit diesem Granville geredet hat.«
Sie flehte ihn fast an und Alistair zögerte. Vielleicht sollte er wirklich warten. Es war ja auch unhöflich, einfach abzuhauen, wo sie ihn, trotz der schroffen Art von Großtante Harriet, so nett aufgenommen und das Frühstück mit ihm geteilt hatten. Dann fiel ihm wieder das Gespräch in der Küche ein. Was hatte Tibbys Großtante nur damit gemeint, ihn hierbehalten zu wollen? Warum? Und für wie lange?
»Bitte«, sagte Tibby Rose, und Alistair merkte ihrer Stimme an, dass sie furchtbar einsam war. Er verspürte einen Anflug von Mitleid.
»Es tut mir leid, Tibby«, sagte er, »aber meine Familie wird sich Sorgen um mich machen. Ich muss wirklich los.«
Ihr geflüstertes Gespräch wurde unterbrochen, denn Großvater Nelson rief: »Ich geh dann mal in die Stadtund mache Einkäufe«, und Großtante Harriet rief zurück: »Sei aber zum Mittagessen wieder da, Nelson!«
Der alte weiße Mäuserich öffnete die Fliegentür und trat auf die vordere Veranda. In einer Hand hatte er einen braunen Hut, in der anderen einen Spazierstock. »Bist du da oben, Tibby Rose?«, rief er in Richtung des Baumes.
»Ja, Großvater«, sagte sie. »Ich zeige Alistair mein Baumhaus. Bis später.«
Großvater Nelson winkte ihnen mit dem Hut zu, dann setzte er ihn auf und stapfte die Stufen hinunter, den Gartenweg durch den Rasen entlang und bog schließlich in die Straße zur Stadt ein.
»Ich gehe ihm nach«, entschied Alistair. »In der Stadt gibt es sicher jemanden, der weiß, wie man von hier nach Schetlock kommt.«
Tibby machte ein enttäuschtes Gesicht.
»Ich hab eine Idee«, sagte er. »Warum kommst du nicht bis zur Stadt mit? Du kannst doch dann deinem Großvater nach Hause folgen.«
Tibby neigte den Kopf zur Seite und wirkte unsicher. »Ich bin noch nie in der Stadt
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