Die Entfuehrung
Der helle Mond spendete das äußerst notwendige Licht, doch die aufgetürmten Felsen warfen unheimliche Schatten, die sie manchmal unerwartet in Dunkelheit tauchten. Der Weg, auf dem sie dem abweisenden Spitzfels-Massiv entgegenkletterten, fiel neben ihnen steil ab. Alice konnte nicht sehen, wie tief, aber sie hatte das sichere Gefühl, dass es mehr war, um als Maus überleben zu können, wenn man hinunterfiel. Warum hatte sie nurauf Alex gehört, als er vorgeschlagen hatte, die Abkürzung zu nehmen? Tief im Inneren hatte sie gewusst, dass es eine falsche Entscheidung war. Vor ihr war der Rücken ihres Bruders. Unbeirrt erklomm er den Hang, nie schien er zu zögern oder zu stolpern. Unwillen stieg in ihr auf. Er hatte gut reden – er war kräftig genug, um ewig weiterzugehen. Aber sie war müde ... so müde ... Autsch! Alice stieß vor Schmerz ein Quieken aus, denn sie war auf einen spitzen Stein getreten.
Es war ja wirklich unklug, die Abkürzung über das Spitzfels-Massiv zu nehmen, aber nur halb so unklug wie der Plan, den gefährlichsten Teil auch noch in der Dunkelheit zu durchwandern. Und dieser besonders unkluge Vorschlag war von ihr gekommen, wie sie zugeben musste. Aber welche Wahl blieb ihnen denn? Wenn Horatius und Sophia die Entführer waren – doch wie konnte das sein? Alistair war ja nicht bei ihnen. Autsch! Als sich schon wieder ein Stein in den weichen Teil ihres Fußes bohrte, beschloss Alice, sich besser darauf zu konzentrieren, wohin sie trat. Ein Fehltritt, und sie konnte sich zu Tode stürzen, sagte sie sich schaudernd. Und ein geräuschvoll wegschlitternder Stein konnte die beiden Mäuse auf sie aufmerksam machen – waren es Freunde oder Feinde? –, die irgendwo in der Nähe schliefen.
Als sie sich dem Felsblock näherten, den Sophia gemeint hatte, verlangsamte Alex sein Tempo und sah Alice mit dem Finger auf den Lippen an. Er musste sie jedoch nicht auf die gefährliche Situation aufmerksam machen. Ihr Herzklopfte so wild in ihren Ohren, aus Angst und vor Erschöpfung, dass sie fürchtete, das laute Pochen könnte sie vielleicht verraten.
Langsam schlichen sie weiter. Langsam, ganz langsam. Schließlich konnten sie den Atem der schlafenden Mäuse hören, sehen konnten sie die beiden in der Dunkelheit jedoch nicht. Alice hatte eine Hand auf der Felswand, die sich neben ihnen erhob, und rückte langsam an ihren Bruder heran. Sie achtete darauf, kein Geräusch zu machen. Doch da fuhr Alex plötzlich zurück und stieß mit Alice zusammen, die das Gleichgewicht verlor. Verzweifelt versuchte sie, sich am Boden festzukrallen, während sie auf die Felskante zurutschte, doch ihr Schwung war zu groß. Ihr Schrei durchschnitt die Stille und sie stürzte in den Abgrund.
8 DIE KÖNIGLICHEN WACHEN
A ls die ersten Sonnenstrahlen auf den Fluss trafen, schlug Alistair die Augen auf. Zuerst war er überrascht über das, was er spürte: einen Stein unter dem Rücken, einen leichten Schmerz in der Schulter, eine milde Brise, die sein Fell zerzauste. Darüber der blasse Himmel statt die Decke von Tante Beezers Arbeitsraum. Doch dann sickerten die Ereignisse der letzen vierundzwanzig Stunden in sein Bewusstsein und er sprang auf.
Von Tibby Rose war keine Spur zu sehen.
»Tibby?«, rief Alistair mit leiser Stimme. »Tibby Rose?«
Zu seiner Erleichterung kam sie auch schon hinter dem Bambushain hervor. In jeder Hand hielt sie ein langes, dickes Stück gerundeter Baumrinde. »Paddel«, sagte sie und hielt die Holzteile hoch.
Nicht zum ersten Mal überlegte Alistair, was für ein Glück er hatte, auf Tibby Rose gestoßen zu sein. Sie erwies sich als die ideale Begleiterin auf seiner Reise. »Du denkst aber auch wirklich an alles«, sagte er.
Nach einem langweiligen Frühstück, das aus Brombeeren bestand, ließen sie das Floß zu Wasser, wie sie es am Abend zuvor geübt hatten. Schon bald waren sie mitten auf dem Fluss und glitten gemächlich stromabwärts. Tibby stand am rückwärtigen Ende des Gefährts und korrigierte ab und zu ihre Fahrtrichtung mithilfe der Bambusstange, während Alistair vorne saß und paddelte.
Zunächst fuhren sie an einigen Lichtungen vorbei, ähnlich der, auf der sie übernachtet hatten, auch an dem einen oder anderen Badestrand – alle glücklicherweise zu dieser frühen Stunde noch verlassen. Doch als sie Tempelton schließlich hinter sich gelassen hatten, wurden die Dickichte, die den Fluss säumten, immer wild wachsender und struppiger. Außer den silbrigen Umrissen von
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