Die Entfuehrung
Horatius wissen.
»Schon möglich«, sagte Sophia. Sie schielte jetzt den Weg entlang, war jedoch anscheinend überzeugt, dass dort nichts war, denn nun wandte sie den Blick dem Himmel zu. »Oder vielleicht ein Raubvogel. Ein Adler zum Beispiel.«
»Ein – ein Adler?«, kreischte Horatius.
Offensichtlich ließ sich Sophia von solch unbedeutenden Gefahren wie Raubvögeln mit ihren zupackenden Fängen und gefährlichen Schnäbeln, die eine Maus zerreißen konnten, nicht aus der Ruhe bringen. Mit einemKopfschütteln wandte sie sich vom Himmel ab und sagte: »Oder vielleicht auch ein Gruselgespenst. Komm, Horatius, wir haben fast noch gar nicht geschlafen. Ich weiß, dass ich eigentlich keinen Schönheitsschlaf brauche«, sie strich sich selbstgefällig über die langen Barthaare, »aber ich möchte ihn doch nicht missen.« Und sie legte sich wieder oben auf dem Felsen zur Ruhe.
»Ein Gruselgespenst?«, sagte Horatius beunruhigt. »Was ist ein Gruselgespenst? Sophia, was ist ein Gruselgespenst?«
»Mach dir nicht in die Hose, lieber Horatius. Ein Gruselgespenst wird dir schon nichts tun, solange ich bei dir bin.« Alice hatte den Eindruck, dass die silbergraue Maus vor sich hin kicherte, während sich Horatius neben ihr zusammenrollte.
Alices Armmuskeln taten inzwischen höllisch weh und ihre Finger wurden vom Umklammern der kalten Felskante ganz taub. Sie sah, wie Alex vorsichtig einen Schritt vortrat, und folgte ihm mit Blicken, um ihn dazu zu bringen, sie anzusehen. Hieß es nicht, es gäbe eine spezielle Verbindung zwischen Drillingen? Oder bezog sich das nur auf Zwillinge, und diese spezielle Verbindung wurde schwächer, wenn sie sich auf drei verteilte? Sie musste sich eingestehen, dass weder Alex noch Alistair jemals den Anschein gegeben hatten, ihre Gedanken lesen zu können. So ein Pech, dass sie nur Brüder hatte. Sie war sich sicher, dass eine Schwester ihre Verzweiflung gespürt hätte, ihre erschlaffenden Arme, ihren nachlassenden Halt. Sie musste sich bemerkbar machen. Sie konnte sich nicht länger halten ...
Gerade hatte sie den Mund geöffnet, um nach ihrem Bruder zu rufen, da spürte sie, wie kräftige Hände nach ihren Handgelenken griffen. Es war Alex. Stumm, aber mit entschlossenem Blick hievte er sie hoch auf den Weg und in Sicherheit.
Sekunden später lag Alice keuchend auf dem Boden. Der Felsüberhang verbarg sie vor Sophia und Horatius. Sie fühlte sich ganz schwach vor Erleichterung, und so blieb sie erst einmal unter den besorgten Blicken ihres Bruders ein paar Minuten bewegungslos liegen. Dann setzte sie sich auf, streckte und spannte Handgelenke und Finger, die ganz steif und wund waren, und versuchte durch Reiben, wieder Gefühl in die Arme zu bekommen.
Eine ganze Weile saßen sie still da, lauschten den tiefen Atemzügen über ihren Köpfen und versuchten, sich von dem Schrecken zu erholen, dass Alice nur so knapp mit dem Leben davongekommen war. Schließlich, als bereits die ersten schwachen Schimmer der Morgendämmerung den Himmel färbten, sagte Alex mit stummen Lippenbewegungen: »Lass uns losgehen«, und sie standen auf, streckten sich und machten sich auf den Weg.
Zwei Stunden gingen sie dahin, lang genug, um mitzuerleben, wie der dunkle Berg über ihnen erst bläulich wurde, dann ein kühles, blendendes Weiß annahm, als sich die Sonne über den Horizont schob. Obwohl sie nicht darüber sprachen, hatte Alice das sichere Gefühl, dass Alex das Gleiche dachte wie sie. Ursprünglich waren sie Horatius und Sophia in der Absicht und mit der Hoffnung gefolgt,sie zu belauschen. Doch jetzt war ihr einziger Gedanke, möglichst schnell voranzukommen. Als es hell war, erschien ihnen alles klar. Alistair war nicht bei Horatius und Sophia, daher musste er woanders sein – hoffentlich nicht auf einem Schiff auf dem Weg nach Souris. Sie mussten Schambel erreichen und den Brief so schnell wie möglich Tante Beezers FUG-Freunden übergeben.
Als sie endlich überzeugt waren, genug Abstand von Horatius und Sophia zu haben, rasteten sie und nahmen ein spärliches Frühstück ein. Während sie missmutig an den harten Brotkanten nagten, die als Einziges übrig waren von dem »anständigen Abendessen« der Bäuerin, stellte Alice fest, dass ihre Dankbarkeit gegenüber Alex – er hatte sie ja schließlich gerettet – vor lauter Hunger in Unwillen umschlug.
»Danke übrigens, dass du mich fast umgebracht hast«, fuhr sie ihn an.
»Was redest du da?«, erwiderte Alex streitlustig. Auch er war
Weitere Kostenlose Bücher