Die Entfuehrung
nicht in der Lage, Hungergefühle gut gelaunt zu ertragen.
»Du hast mich über den Rand geschubst!«
»Ich habe dich nicht geschubst, ich hab dich versehentlich angestoßen. Das ist was anderes, verstehst du? Ich hab nämlich gedacht, ihr Schwanz sei eine Schlange.«
»So was Lächerliches. Seit wann hängen Schlangen über Felskanten?«
»Seit wann weißt du so gut über Schlangen Bescheid?«
Nach diesem Schlagabtausch standen sie auf und marschierten stumm weiter, doch Alice konnte noch nicht aufhören. »Superidee von dir, die Abkürzung zu nehmen.«
Sie sanken mit den Füßen in Schneematsch ein.
»Wenn ich mich recht erinnere, hast du es auch für einen guten Plan gehalten«, schoss Alex zurück.
Der Weg stieg jetzt steil an und die Luft wurde schneidend vor Kälte.
Alice, die wusste, dass er recht hatte, beschloss, ihre Gedanken lieber für sich zu behalten. Stattdessen konzentrierte sie sich mit aller Kraft auf den Grat, der unter dem Spitzfels-Massiv verlief. Das musste wohl die Passstraße sein. Sobald sie den Pass erreicht hatten, würde es nur noch bergab gehen.
Als der Matsch etwas später zu Schnee wurde, besserte sich ihre Laune. Noch nie zuvor hatte sie Schnee gesehen. Sie hob eine Handvoll der eiskalten, puderigen weißen Masse auf, formte einen Schneeball und warf ihn nach ihrem Bruder, der vor ihr hermarschierte. Sie lachte, als sie ihn mitten am Hinterkopf traf.
»Was soll das?«, sagte Alex und wischte sich den Schnee vom Fell. Aber er lachte ebenfalls, und Alice wusste, dass er ihr den Anfall schlechter Laune inzwischen verziehen hatte.
Die kalte Luft zwickte sie in Ohren und Nase, aber der Himmel war tief blau und die Sonnenstrahlen erstaunlich wärmend. Als sie den Passweg direkt unter dem Gipfel erklommen, zog Alice begeistert die Luft ein angesichts der schneebedeckten Welt, die sich um sie erstreckte.
Der Weg öffnete sich auf ein breites Plateau, das in sanften Wellen abfiel. In der Ferne konnten sie die Straße sehen, die sie verlassen hatten, den Fluss, die Felder und Bäume. Wenn man vom Spitzfels-Massiv nach links blickte, war der Weg entlang des Bergkamms, wie Alice feststellte, von majestätischen Kiefern gesäumt, deren durchdringender, erfrischender Duft die Luft erfüllte. Und unter der Baumgruppe, die ihnen am nächsten war, stand ein Haus. Kein Wunder, dass sie es zunächst nicht bemerkt hatte. Es war eine kleine, solide Blockhütte in den gleichen Farben wie die Baumstämme, die fast mit den Bäumen zu verschmelzen schien. Neben den Stufen, die zur Haustür führten, stand ein Schlitten, und unter einem Fenster, aus dem ein gelbliches Licht schimmerte, lag ein Holzstoß.
»Schau mal, Alex.« Alice stieß ihren Bruder an. »Ich glaube, da wohnt ein Holzfäller.«
Alex, der die abweisenden Felswände von Schetlocks höchstem Berg angestarrt hatte, die sich zur Rechten erhoben, drehte sich um und folgte mit dem Blick ihrem ausgestreckten Finger.
»Was isst wohl so ein Holzfäller?«, war das Erste, was Alex fragte. Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er auf das Häuschen zu. Ungeübt stapfte er durch den Schnee, der ihm fast bis zu den Knien reichte.
»He«, rief Alice. Sie stolperte hinterher.
Als sie ihn eingeholt hatte, spähte Alex gerade in ein Fass neben dem Holzstoß. »Leer!«, bemerkte er unwillig. Dann kletterte er auf den Holzstoß, um durchs Fenster zu schauen.
»Fondue«, sagte er voller Staunen und Neid. »Käsefondue.«
»Lass mal sehen.« Auch Alice kletterte auf den Holzstoß.
In der Blockhütte war ein grauweißer Mäuserich mit dickem, struppigem Fell. Er saß in einem tiefen, ausgesessenen grünen Sessel vor einem prasselnden Feuer. In einem Kessel über dem Feuer brodelte geschmolzener Käse. Vor den Blicken der Kinder riss sich der Mäuserich von dem Laib Brot, der neben ihm lag, ein Stück ab, steckte es an die Spitze einer langen Gabel, fuhr damit durch die dicke Käsemasse und hob es mitsamt der langen Käsefäden zum Mund. Dazu aß er eingelegte Perlzwiebeln.
Die beiden waren so versunken in den Anblick – wobei sich Alex überlegte, welchen Käse der graue Mäuserich wohl genommen hatte –, dass die Stimmen von Horatius und Sophia ihnen einen Schock versetzten.
»Schnell, in das Fass!«, zischte Alice. Die beiden jungen Mäuse sprangen direkt von dem Holzstoß in das Fass. Kaum eine Sekunde danach tauchten Horatius und Sophia auf dem Bergkamm auf.
Sophias melodiöse Stimme hallte laut durch die klare, kühle Luft. »Horatius,
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