Die Entfuehrung
Sie kam drohend auf die beiden zu. »Und ich bin nicht sehr angenehm, wenn ich verärgert bin.« Sie hob den Arm, als wollte sie sie schelten. Erschrocken stellte Alice fest, dass sie ein Messer in der Hand hielt.
»Alex ...« Aber ein kurzer Blick in das bleiche Gesicht von Alex sagte ihr, dass auch er das Messer gesehen hatte.
Die beiden jungen Mäuse wichen vorsichtig zurück, während Sophia näher kam. Die Messerklinge blitzte.
Als sie sich dem Klippenrand näherten, sah sich Alice verzweifelt nach einem Fluchtweg um. Sophia versperrte den Weg, der entweder zur Küste oder zurück nach Schambel führte. Wie stand es mit der Bucht? Doch schnell verwarf sie die Idee. Die Bucht war ganz von Felsen umschlossen und bot keinen Fluchtweg außer ... dem Tunnel?
Sie sah den Weg entlang, den sie gekommen waren, und konnte nicht mehr sagen, welches Gebüsch den Eingang zum Tunnel verbarg. Außerdem, wenn sie Sophia zu dem Tunnel führten, würden sie Julius und Augustus verraten. Nein. Es gab nur eine Möglichkeit, zu entkommen – auch wenn sie keineswegs Erfolg versprechend schien.
»Alex«, sagte Alice und schluckte heftig. »Was hat Onkel Ebenezer noch mal gesagt, wie man von Klippen springt?«
Alex sah zur Steilküste hin, dann warf er ihr einen fragenden Blick zu. Alice nickte ihm schicksalsergeben zu.
»Er hat gesagt, man soll die Augen zumachen, damit man nicht sieht, wie tief man fällt.«
Dieser Rat schien Alice der vernünftigste zu sein, den ihnen Onkel Ebenezer je gegeben hatte.
»Also los«, sagte sie und holte tief Luft. »Tun wir es.«
Und die beiden Mäuse drehten sich um, rannten und sprangen ... von der Klippe ins Ungewisse.
16 WIDERSTAND
R otbraune Maus!«
Als sich eine der Krallen des riesigen Raubvogels um Alistair schloss, schrie er: »Lauf, Tibby!« Doch da hatte der Uhu seine Freundin schon mit der zweiten Kralle gepackt. Danach bekam Alistair nicht mehr genug Luft, um zu schreien, denn die Kralle umfasste ihn wie ein Schraubstock, und er konnte nur noch mit Mühe atmen. Er versuchte, den Kopf zu drehen, um Tibby Rose anzusehen, aber er saß zu fest im Griff des Uhus.
Ein paar Flügelschläge des Vogels, und sie waren in der Luft. Der Boden unter ihnen verschwamm, während sie durch die Strahlen der Sonne getragen wurden, die rechts von ihnen unterging. Alistair hielt die Augen fast die ganze Zeit geschlossen, so sehr fürchtete er sich. Bestimmt würde der Uhu bald sein Ziel erreicht haben. Alistair war überrascht, dass der Räuber ihn und Tibby nicht sofort getötet und verspeist hatte. Vielleicht brachte er sie heim, um seine Kleinen mit ihnen zu füttern? Fast wäre es Alistair lieber gewesen, der Vogel hätte ihn tatsächlichgleich getötet. Alles war besser als diese schreckliche Ungewissheit ...
Doch während die Sonne ganz unterging und es erst dämmerte und dann dunkel wurde, fragte er sich immer mehr, wohin der Uhu sie wohl brachte. Seit wann jagten Eulen so fern von ihrem eigenen Revier? Er öffnete die Augen, die im Flugwind sofort zu tränen anfingen, und versuchte, sich zu orientieren – was nicht leicht war, wenn man bedachte, woher er die sourisanische Geografie kannte: von dem flüchtigen Blick auf die Karte in Großtante Harriets Bibliothek und einer in den Sand geritzten Raute am Flussufer von Tempelton.
Angst und Übelkeit überfluteten ihn, denn der Uhu schwenkte nach links. Alistair spähte hinunter und sah eine riesige Ansammlung von Lichtern. Konnte das Grantel sein, das weit jenseits der Eugenischen Bergkette lag? Konnten sie tatsächlich so weit geflogen sein?
Sie legten sich erneut in die Kurve, diesmal nach rechts, und die Lichter unter ihnen verschwanden wieder. Alistair schloss die Augen und dachte an all die schönen Dinge des Lebens, die ihm fehlen würden. Alices rasche Auffassungsgabe und Alex’ brüderliche Treue. Onkel Ebenezers Geschichten und Tante Beezers trockener Humor. Er dachte an Emily, die Bibliothekarin, und an Herrn Russo, seinen Lieblingslehrer. An Frau Zetland und ihre Kekse und an Herrn Groll und seinen Garten. An seine besten Schulfreunde Linus und Betty. Dann dachte er an Tibby Rose, die ihre Eltern nie kennengelernt hatte, niemals Geschwister oder Freunde und Nachbarn gehabt hatte, sondern ganz allein mit zwei ältlichen Verwandten in dem großen alten Haus aufgewachsen war. Wie traurig, dass ihr Leben enden sollte, ehe sie richtig gelebt hatte.
Es verging einige Zeit, und als sie sich wieder in eine Kurve legten, öffnete
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