Die Entfuehrung
an Onkel Ebenezers Worte, »auf dem Wasser zu treiben ist einfach – aber versuch es mal, wenn du eine andere Maus am Schwanz hältst.«
Alice lachte halbherzig und paddelte weiter.
Eine Zeit lang schienen sich ihre Arme und Beine wie von selbst zu bewegen, als würden sie nicht mehr zu ihr gehören. Dabei konzentrierte sie sich darauf, die Nase über den schwappenden Wellen zu halten. Aber die Zeit verging – es konnte sich um Minuten oder um Stunden handeln. Sie hatte kein Gefühl mehr dafür, es kam ihr nurso vor, als seien sie schon seit einer Ewigkeit im Wasser. Schließlich fingen ihre Muskeln heftig an zu schmerzen und ihre Gliedmaßen wurden ihr nur allzu bewusst. Wenn Alex nicht gewesen wäre, der sie ständig ermunterte, weiterzukämpfen, und sie daran erinnerte, dass Alistair sie brauchte und dass Tante Beezer und Onkel Ebenezer vielleicht auch in Gefahr waren, dann hätte sie wohl aufgegeben, so ermattet war sie.
Links konnte sie die Küste noch sehen, aber sie entfernte sich immer mehr. Selbst wenn die Strömung sie nicht unbarmherzig fortgetragen hätte, bezweifelte sie, noch so weit schwimmen zu können. Hatte sie nicht vorhin in dem Keller gesagt, sie könnten beide gut schwimmen? Das Gefühl hatte sie jetzt gar nicht mehr. Sie fühlte sich nur noch schwach, so schwach. Schwach und müde. Ach, wenn sie ihre matten Arme und Beine doch nur eine Minute ausruhen lassen und ihre müden Augen schließen könnte ... Das tat gut. Es war so friedlich, zu träumen und dahinzutreiben. Sie fühlte sich auf einmal herrlich entspannt und ...
»ALICE!«
Erschrocken riss Alice die Augen auf. Sie wollte Luft holen, da drang ihr Wasser in Mund und Nase und sie musste husten. Vor lauter Panik wusste sie nicht mehr ein noch aus. Auf einmal hatte sie vergessen, wie man schwimmt, und schlug nur noch wild um sich. Dann trieb sie auf dem Rücken und Alex hielt ihr Kinn hoch und sagte: »Alles in Ordnung, Schwesterherz, ich halte dich. Bleib ganz ruhig.«
Nach ein paar Minuten ließ der Panikanfall nach. »Es ... es geht wieder«, sagte sie und bewegte mit neuer Entschlossenheit Arme und Beine. Sie schämte sich. Ihr Bruder, der selbst um sein Leben schwamm, hatte seine eigene Kraft aufwenden müssen, um ihr zu helfen.
Es kam Wind auf und Wolken verhüllten die Sonne. Das Wasser wurde kälter.
»D-d-da!«, rief Alex plötzlich durch klappernde Zähne. Er deutete auf ein Schiff!
»Hilfe!«, schrien sie. »Zu Hilfe!«
Doch ihre Stimmen verloren sich im Klatschen der Wellen gegen die Schiffswand und im Knarren der Takelung, während sich die Segel aufblähten. Von der Bugwelle des Schiffes wurden sie wieder von ihrem rettenden Ziel abgetrieben.
»HILFE!«
Dann erklang eine Stimme. »Kapitän, vorne auf Steuerbord sind zwei Mäuse!«
»Was machen die denn da?«, wollte eine brummige Stimme wissen.
»Ertrinken, glaube ich«, sagte die erste Stimme. »Was sollen wir machen?«
»Was wir machen sollen?! Wirf eine Leine aus und zieh sie an Bord, Junge – und zwar schnell!«
Eine Rettungsleine wurde ausgeworfen und die beiden Mäuse klammerten sich verzweifelt daran fest. Als sie am Schiffsrumpf anlangten, wurde eine Strickleiter heruntergelassen.
»Du zuerst, Schwesterherz«, sagte Alex. Alice kletterte los. Ihre schwachen Muskeln und erstarrten Gliedmaßen schmerzten höllisch. Die Leiter schlingerte und schaukelte mit der Bewegung des Schiffes, und Alice konnte nichts anderes tun, als sich festzuklammern. Dann wurden ihr hilfreiche Hände entgegengestreckt, zogen sie über die Reling, und sie war an Deck und in Sicherheit. Einen Moment stand sie wankend auf unsicheren Beinen da, dann wurde alles schwarz und sie kippte um.
Als sie die Augen aufschlug, sah sie in einen Kreis besorgter Gesichter. Am besorgtesten sah Alex aus. Er war in eine Decke gehüllt, und als Alice den Kopf anhob, merkte sie, dass auch sie zugedeckt war.
»Das arme kleine Ding ist völlig erschöpft«, sagte ein zerrupfter brauner Mäuserich. Alice erkannte seine brummige Stimme als die des Kapitäns.
Während sie sich langsam aufsetzte, wandte sich Alex an den Kapitän und sagte: »Bitte, Kapitän, können Sie uns nach Schambel bringen? Wir werden zu Hause gebraucht – dringend!«
»So, so«, sagte der Kapitän und betrachtete die beiden zitternden Mäuse auf seinem Deck mit einem freundlichen Blick. »Lasst uns mal runter in meine Kajüte gehen und darüber reden. Der Smutje soll euch eine heiße Schokolade bringen.«
Alice und Alex
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