Die Entführung der Musik
Wiesel hatte recht. Er hatte keine Vorstellung davon, was in den Glockenwäldern geschehen mochte. Nach allem, was er wußte, mußte dieser Fluch - oder diese Plage oder wie auch immer man diese Geißel nennen wollte - das musikalische Leben jener Gegend ebenso heimtü- ckisch und tiefgreifend befallen haben wie Mashupro und den Rest des Karrakas-Gebietes. Er versuchte, sich das lebhafte Lynchbany vorzustellen, wie es ohne Musik an seinen öffentlichen Plätzen und in seinen Kneipen wirken mochte, versuchte sich den Hauptplatz ohne die rauhe Kakophorüe der Amateurmusiker und reisenden Spielmän- ner vor das innere Auge zu rufen. Der Gedanke war sehr ernüchternd.
Was geschah mit der Musik? Wurden alle Lieder und Melodien der Welt von so etwas wie einem musikalischen Friedhof oder einer Mu- sikmüllhalde aufgesaugt?
»Ich kann mir nicht um die ganze Welt Sorgen machen«, erklärte er schließlich. »Gerade jetzt folgen Mudge und ich dieser Gruppe von Akkorden. Auf mehr können wir uns nicht konzentrieren. Außerdem versuchen wir, einem halben Dutzend Prin... wichtigen Per- sönlichkeiten bei der Heimreise zu helfen. Ich kann mir nicht um jede Musik Sorgen machen, sondern nur um meine eigene.«
Der Gibbon nahm es ihm nicht ab. »Das kann ich nicht glauben, Mensch. Bannsänger oder nicht, du bist ein wirklicher Musiker. Die Sache muß dir Sorgen bereiten.«
»Was wirst du tun, wenn auch bei dir die Wirkung einsetzt?« dräng- te ihn das Wiesel. »Wie wirst du reagieren, wenn du dein merkwürdi- ges Instrument spielen willst, und kein Ton kommt hervor? Dann geht es dir nicht nur so wie uns, und du kannst keine Musik mehr machen, nein - auch mit deiner Magie ist es vorbei.«
»Ich denke nicht, daß es mich treffen wird«, erwiderte Jon-Tom mit mehr Gewißheit, als er tatsächlich empfand. Denn warum sollte aus- gerechnet er ausgenommen bleiben? Eine Plage war eine Plage, und es konnte einen gewöhnlichen reisenden Spielmann ebenso erwischen wie einen berühmten Bannsänger. War es ein Keim, der alle Musik befiel und umbrachte? Ein magisches, mutiertes Virus? Warum sollte er gegen eine solche Infektion immun sein? Keime und Viren nahmen weder auf Ruhm noch auf Ansehen Rücksicht.
Ob er wohl mit seinem Gesang einen Musikimpfstoff herbeibannen konnte? Wenn ja, dann sollte er ihn bei seinen raren Übergängen in seine eigene Welt mitnehmen. Er kannte dort eine Unzahl von Men- schen, die gegen die Wirkung jeglicher Musik absolut immun waren.
»Wir müssen uns auf den Weg machen«, teilte er der Band schließ- lich mit. »Würde ich allein reisen, bliebe ich hier und würde das Prob- lem untersuchen, aber andere hängen von mir ab. Vielleicht kann ich auf der Rückreise versuchen, etwas für euch zu tun.«
Der Gibbon und seine Gefährten wirkten enttäuscht. »Gibt es nichts, womit wir dich zum Hierbleiben überreden könnten?« Sehn- süchtig fingerte er an den Saiten seiner Ukulele herum. »Heute nacht sind viele Erinnerungen wieder lebendig geworden. Heute nacht wa- ren wir wieder die Herren unserer Musik.«
»Erinnert euch an einige der Lieder, die wir zusammen gespielt ha- ben«, versuchte Jon-Tom ihnen Mut zu machen. »Vielleicht bleiben sie bei euch, wenn ich fort bin. Zumindest eine Zeitlang.«
Das Wiesel setzte sein Instrument an die Lippen und blies ver- suchsweise ein paar vorsichtige Töne. Aus seiner Doppelflöte klang Pinball Wizard etwas verändert, aber merkwürdig schön. Es hatte ein- nehmende Obertöne, die Pete Townshend ohne Zweifel in dieser Form niemals vorgesehen hatte.
»Na also!« Jon-Tom war erleichtert, und das Schuldgefühl, daß er diese neuen Freunde und Kollegen einem widrigen und Ungewissen Schicksal überließ, wurde schwächer.
Der Gibbon mußte sich eine Träne aus den Augen wischen. Er ist wohl eher ein rührseliger Typ, dachte Jon-Tom.
»Dies ist ein großes Geschenk, das Geschenk der Musik. Wir dan- ken dir dafür, solange es hält. Auch wenn wir lieber unsere eigenen Melodien wieder hätten.« Unter seinen Gefährten erhob sich ein zu- stimmendes Gemurmel.
»Teilt euch die Lieder ein, die ich euch dagelassen habe, und geht sparsam damit um. Wenn ich diese Damen zu ihren Familien heimbe- gleitet habe, komme ich auf dem gleichen Weg zurück und helfe euch, so gut ich kann. Das ist ein Versprechen.« Hinter Jon-Tom klingelten leise die verlorenen Akkorde - Parfüm für die Ohren.
Sie gaben sich rundum die Hand und klopften sich gegenseitig auf den Rücken. In ihrer Gestalt
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