Die Entführung der Musik
Mahlstroms konnte ihr Segel nichts mehr ausrichten, und nun bewegten sie sich immer schneller nach oben. Der einzige Unterschied zu der vorangegangenen Abwärtsfahrt bestand darin, daß sie nun gegen den Uhrzeigersinn und rückwärts fuhren. Falls das überhaupt möglich war, so geriet dadurch ihr inneres Gleichgewicht sogar noch mehr durcheinander.
»Was hast du gemacht, Kumpel?« Mudge klammerte sich an einem Stag fest.
»Ich habe zu lange gespielt, verdammt! Ich hätte aufhören sollen, als die Drehbewegung nachließ.« Mühsam um sein Gleichgewicht kämpfend, starrte er entsetzt die heulende, wirbelnde Wasserwand an.
»Dort, wo ich herkomme, sagt man rückwärts gespielter Musik eine magische Wirkung nach. Ich wollte nur, daß das Drehen aufhört, da- mit wir hier heraussegeln könnten, aber jetzt habe ich den Wirbel an- scheinend in umgekehrter Richtung wieder angestoßen.«
»Ohhhh... weiß einer von euch, ob man umgekehrt erbrechen kann?« Ansibette lag auf den Planken und hielt sich den Magen, »welch reizender gedanke, liebes.« Quiquell lag neben der Menschen- frau, »du hast zu viel phantasie.« Es brauchte sich jedoch keiner Sor- gen um diese Frage zu machen, denn keiner hatte noch irgend etwas im Magen.
Die Fahrt wurde immer schneller, und Naike hielt entschlossen das Steuerrad fest. »Haltet euch bereit! Sobald wir hier heraus ins Freie geschleudert werden, müssen wir uns mit größtmöglicher Geschwin- digkeit von diesem Ort entfernen.«
»Jawohl, Sir!« erklangen die Rufe der Soldaten. Jon-Tom hielt die Hände auf die Saiten der Duar gelegt. Was geschehen würde, wenn sie die Oberfläche erreichten, war unmöglich vorherzusagen. Ein weiterer hastiger Banngesang (würde er eigentlich jemals andere singen?) mochte angebracht sein.
Ohne Mannschaft und gefolgt von einem verirrten Thunfisch- schwarm, trudelte ein verlassener Dreimaster mit hinterherschleppen- den zerrissenen Segeln an ihnen vorbei. Riesige, aus einem unbekann- ten Riff gerissene Korallenstücke drohten gegen ihren Bootsrumpf zu schlagen. Die Seiten des Strudels füllten sich immer mehr mit treiben- dem Wrackgut.
»Was ist das alles?« fragte sich Naike laut. Mudge bot ihm eine mögliche Erklärung an: »Da Jon-Tom das Ding verkehrtrum drehn läßt, is ihm jetzt wahrscheinlich selber 'n bißchen übel geworden.« Er klammerte sich noch fester an das Stag. »Nur gerecht, würd ich sagen. Diesmal is der Mahlstrom mit Kotzen dran!«
»Haltet euch fest!« Jon-Tom schwang sich die Duar auf den Rü- cken, umarmte den Mast und hielt sich fest. Von einem irren Ruck gefolgt, ertönte ein unglaublich heftiges Gurgeln aus der Tiefe des Strudels. Zusammen mit einem halben Dutzend Schiffswracks, Ton- nen von Korallenstücken, ganzen Schwärmen wild zappelnder Fische und allen Arten von Schutt und Müll wurden sie himmelwärts geschleudert. Mit einem ohrenbetäubenden Platschen schlug das Boot hundert Meter vom Rand des Kraters entfernt auf dem Wasser auf. Es war dem Glück und nicht der Wirkung eines Banngesangs zu verdan- ken, daß sie mit dem Kiel nach unten aufkamen. Das kleine Fahrzeug hüpfte mehrmals in der ruhigen See auf und ab, bevor es sich beruhig- te und das Wasser von Deck und Seiten ablief. Die Soldaten rappelten sich hoch, machten sich eiligst an der Takelage zu schaffen und setz- ten das Großsegel, während der Mahlstrom noch immer heftig und gurgelnd auf stieß.
»Wind!« Flehend schaute Naike das schlaffe Segel an. »Wo ist un- ser Wind?«
Noch während er sprach, kam eine schwache Brise auf. Entsetzlich langsam blähten sich die Segel, doch sie blähten sich tatsächlich. Das Boot setzte sich in Bewegung, und die Akkordwolke führte sie wieder nach Süden. Von den Prinzessinnen ertönte erschöpfter Applaus.
Hinter ihnen verhallte das ozeanische Rülpsen des gequälten Mahl- stroms allmählich in der Ferne.
Eine Weile segelten sie zwischen Treibgut dahin: Uralte Planken, die zerborstenen Kiele vor langer Zeit untergegangener Schiffe, Teile ganzer Wälder, Bruchstücke zerschrammter Ruder und Überreste von Kompaßhäusern. Verwundert sahen sie zu, wie ein uraltes verlassenes Fahrzeug von der zwanzigfachen Größe ihres Bootes an ihnen vorbei- trieb. Es hatte einen einzigen Mast in der Mitte und vier Ruderreihen backbords, aus denen noch immer ein Dutzend oder mehr Ruder in der Größe von Clodsahamps Eiche herausragten. Welche Besatzung es gehabt haben mochte, konnte man sich kaum vorstellen.
Gläserne Schwimmer von
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