Die Entführung der Musik
nein«, dröhnte der Mahlstrom. »Mehr Witze. Die besten Wit- ze, die ich je gehört habe!« Die unheimliche, körperlose Stimme, die rund um sie her ertönte, hallte von den Wasserwänden wieder. »Ich behalte dich hier. Wir erzählen uns ewig Witze.«
»Schau mal, Wasserkumpel, ich kann sehr lange Zeit Witze erzäh- len, verdammt noch mal ja, aber ewig nu doch nich.« Er blickte fra- gend zu Jon-Tom, der verständnisvoll nickte. Mit einem Seufzer nahm der Otter seine ausschweifende Litanei wieder auf.
Nun kreisten sie, ohne zu steigen oder zu sinken, in etwa zwanzig Fuß Entfernung vom oberen Rand. Die Entfernung hätte genausogut zwanzig Meilen betragen können. Mit seinem stetigen Strom humori- ger Anekdoten erkaufte Mudge ihnen weitere kostbare Minuten.
Es wird allmählich Zeit, dachte Jon-Tom, sich diese zunutze zu ma- chen.
Er verschwand unter Deck und kehrte mit der über die Schulter ge- hängten Duar zurück. Ein paar Soldaten applaudierten schwach. An- gesichts des ehrfurchtgebietenden Kraters überlegte Jon-Tom, wie er am besten vorgehen sollte. Er wußte, daß er vorsichtig sein mußte. Wenn der kreisende Strudel stehenblieb und die Zentrifugalkraft sie nicht mehr gegen die Wasserwand drückte, würden sie sich höchst- wahrscheinlich zu Tode stürzen. Wenn der Strudel in sich zusammen- brach, würden Tonnen von Wasser auf das Deck niederbrechen und das Schiff und seine sämtlichen Passagiere unter sich zermalmen. Wenn man den Mahlstrom in Wut versetzte, war gar nicht auszuden- ken, was geschehen mochte.
Konnte er das Phänomen irgendwie dazu überreden, sie gehen zu lassen? Wie überredete man ein Loch im Meer?
»Welch ein Spaß, welch ein Spaß!« grollte der Mahlstrom als Ant- wort auf eine weitere von Mudges Geschichten. Der Otter warf dem Freund einen warnenden Blick zu.
»Gehen dir die Witze schon aus?« erkundigte sich Jon-Tom.
»Nich die Witze. Aber die Stimme. Ich werd 'eiser.«
Jon-Tom mußte zugeben, daß die Stimme des Freundes allmählich etwas rauh klang. Er bezweifelte, daß ein Mahlstrom Verständnis für eine Kehlkopfentzündung würde aufbringen können. Wenn es etwas gab, was ein Wasserstrudel nicht verstand, so war es sicherlich eine Austrocknung der Stimmbänder.
Also war es nun an ihm, etwas zu tun.
Aus der Duar stieg der graue Nebel so schnell und dick auf, daß Jon-Tom sich wunderte, ob irgend etwas völlig falsch gelaufen war. Der Umfang des Nebels überstieg alles, was er jemals herrvorgesun- gen hatte. Selbst die Akkordwolke schoß unter Deck und spähte unbe- haglich hinter der Kante des Lukendeckels hervor. Auch den Prinzes- sinnen wurde trotz ihrer Übelkeit bewußt, daß etwas Außergewöhnli- ches geschah.
Der Strudel verlangsamte sein Kreisen, und die hallende Stimme wurde unsicher. »Was ist das? Was geschieht hier? Das ist kein Witz, das fühle ich.«
»Segelt los!« Naike warf sich aufs Steuerrad. »Setzt alle Segel!«
»Ist der Leutnant verrückt geworden?« Pauko bemühte sich, dem Befehl nachzukommen.
»Nein.« Karaukul kämpfte mit seinem Magen. Daß sie sich nun nicht mehr im Kreis bewegten, besserte die Sache ungemein. »Auch wenn wir jetzt am Rande des Vergessens dahintreiben, haben wir doch Wind und ruhiges Wasser. Wir segeln weder nach Backbord noch nach Steuerbord, weder nach Norden noch nach Süden, sondern nach oben!«
Zwar wirbelte der Strudel nicht mehr im Kreis, doch aufgrund des Temperaturunterschieds zwischen dem freigelegten Meeresgrund und der Meeresoberfläche wehte eine beständige kühle Brise nach oben. Sie blähte die Segel des Schiffes und trieb es vorwärts.
Jon-Tom war sich der Wirkung des Banngesanges nicht sicher, sah aber die Mungos in wilder, zielgerichteter Aktivität und spielte und sang weiter. Rund um sie her war weiterhin die Stimme des sich ver- wirrt beklagenden Mahlstroms zu hören.
In einem Sechzig-Grad-Winkel kämpfte sich das Boot, von Wind- stößen aus der Tiefe getrieben, nach oben. Doch sie kamen nur lang- sam und mühsam voran. Das Fahrzeug weigerte sich eigensinnig, nach oben zu steigen, und bewegte sich statt dessen lieber stetig seit- lich voran. Wenn sie weiter so langsam an Höhe gewannen, würden sie eine Woche brauchen, um bis zur Meeresoberfläche zu gelangen, und so lange konnte Jon-Tom nicht singen.
Und dann begann sich der Strudel wieder zu drehen ... in die entge- gengesetzte Richtung.
»Das hätte nicht passieren dürfen...« Besorgt schaute Jon-Tom über Bord. Gegen die Gewalt des
Weitere Kostenlose Bücher