Die Entführung der Musik
aber Ot- ter waren von Natur aus körperliche Wesen. Eine kleine Berührung hier und da, sagte er sich. Im Moment mehr hier als da - aber wer wußte schon, welche Wunder sich mit der Zeit ereignen mochten?
Wollte er, daß sich Wunder ereigneten? Wieder setzte der Kampf mit seinem neuerworbenen verdammenswerten Gewissen ein, und im Selbstgespräch vor sich hinknurrend trottete er davon, so daß Jon-Tom nichts übrigblieb, als dem entschwindenden Otterrücken neugierig nachzublicken.
Am nächsten Tag legten sich die Prinzessinnen mit ins Zeug und halfen bei der Arbeit. Nicht weil sie plötzlich eine Regung von Gleichheit verspürten, sondern weil ihnen vor Langeweile schon fast die Tränen kamen. Die Insel war zwar sehr lieblich, hatte aber ganz und gar nichts Aufregendes zu bieten. Mit ihrer großen Körperkraft erwies sich Umagi von Tuuro als besonders hilfreich, doch jeder trug sein Teil dazu bei. Ansibette bei der Arbeit zuzusehen, war sogar noch gefährlicher, als ihr beim Nichtstun zuzuschauen, fand Jon-Tom. Er konzentrierte sich auf seinen eigenen Beitrag, der darin bestand, sich resolut zurück zuhalten und den anderen nicht im Weg zu stehen.
Am nächsten Morgen war alles getan, was in ihren begrenzten Möglichkeiten stand. Dann folgten ein paar spannungsreiche Momen- te, in denen sie sich ängstlich fragten, ob die Flut wohl hoch genug steigen würde, um das Boot mitzunehmen. Der Kiel des Schiffes lag fest auf dem Sand auf, und Naike ließ sich die Möglichkeit durch den Kopf gehen, das Rettungsboot hinunterzulassen und das größere Fahr- zeug mittels eines am Heck befestigten Taus ins Wasser zu schleppen. Sie konnten auch den Anker mit dem Rettungsboot ausbringen, ihn fallen lassen, das Schiff mit der Winsch verholen und auf diese Weise rückwärts vom Strand freiwarpen.
Doch mußten sie keine dieser mühseligen Verrichtungen in Angriff nehmen. Die Flut stieg gerade hoch genug, um das Schiff anzuheben. Das tapfere kleine Fahrzeug richtete sich auf, als sie die Segel wieder setzten und in die Lagune hinaustrieben. Das Wendemanöver erfolgte unter Naikes immer sicherer werdendem Kommando, und dann mach- ten sie sich zuversichtlich an die Durchfahrt durch das Riff.
Erst als sie wieder auf offener See waren, entspannten sich die Rei- senden. Heke und Karaukul begaben sich eilig unter Deck, um nach- zusehen, ob die Reparaturen Erfolg gehabt hatten. Beim Bug drang noch immer etwas Wasser ein, doch die restlichen Flickstellen hielten dicht. Zum Ausgleich für ihr mangelndes handwerkliches Geschick hatten sie selbst den winzigsten Spalt über und über kalfatert und ab- gedichtet. Der großzügige Umgang mit Zeit und Material an Land setzte sich nun in Sicherheit auf See um.
»Unten ist es dicht, Sir«, berichtete Heke stolz.
Von der anderen Seite des Steuerrades betrachtete Jon-Tom auf- merksam den verhangenen Himmel. »Wir müßten eigentlich zurecht- kommen, es sei denn, wir geraten in einen weiteren Sturm. Ich weiß nicht, ob das Boot solche Stöße noch einmal aushält.«
Eine kleine, aber kräftige Pfote legte sich auf seinen Arm. »Seid gu- ten Mutes, Bannsänger. Sucht keine Stürme, wenn sie nicht Euch su- chen.« Geistesabwesend schlug Naike nach der Akkordkette, die in der Nähe seines Kopfes herumschwirrte. Die Musik kribbelte ihn in den Ohren.
Sie waren seit einer Stunde unterwegs, und Jon-Tom heiterte gerade seine Gefährten mit ein paar Liedern auf, da ertönte Hekes Stimme aus dem Mastkorb: »Fünf Grad Steuerbord ist etwas in Sicht, Sir!«
Der Leutnant schaute mit zusammengekniffenen Augen zum Aus- guck hinauf. »Was ist es?«
»Das kann ich nicht genau erkennen. Doch was es auch sein mag, es ist groß.«
Jon-Tom überließ das Steuerrad dem Mungo und stürzte zur Reling. Die aufgeregten Prinzessinnen taten es ihm nach.
Als die gigantische Gestalt aus dem Wasser aufstieg, zogen sie sich schnell zurück. Die Gestalt war viel größer als das Fahrzeug, hatte glitschige Seiten und eine blasse Färbung. Der Geruch einer abgründi- gen Tiefe hing an ihr. Die durch ihr Auftauchen erzeugten Wellen brachten das Boot leicht zum Schaukeln. Vorsichtshalber machte Jon- Tom die Duar bereit.
Der mehr als hundert Tonnen schwere und weit über hundert Fuß lange Blauwal legte sich behutsam längsschiffs gegen das Boot. Vom vorderen Teil dieser geschwungenen Feste blaßblauen Fleisches rich- tete sich ein tellergroßes Auge fest auf Jon-Tom. Die Luft erzitterte von einer Stimme, von deren dröhnendem
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