Die Entführung der Musik
Klang dem Bannsänger die Zähne schmerzten.
» K ENNE ICH DICH NICHT ? «
Mehr als verblüfft betrachtete Jon-Tom sein Spiegelbild im Auge des Wals. »Äh, ich glaube nicht. Wenn wir uns schon einmal begegnet wären, könnte ich mich doch daran erinnern.«
» DIESE MUSIK ...« Mühelos hielt das Seeungeheuer m it der Ge- schwindigkeit des Bootes Schritt. » I CH KÖNNTE SCHWÖREN , DAß ICH SO ETWAS SCHON EINMAL GEHÖRT HABE . U ND AUCH GESEHEN HABE , WER ES HERVORBRINGT . «
Das Auge wanderte ein wenig zur Seite. »U ND DICH K ENNE ICH DOCH AUCH . «
»Mich?« quiekte der Otter, als das Auge sich auf ihn richtete. »Das glaub ich kaum, Euer Übermaß. Nich, daß ich noch nie jemanden ver- gessen 'ätte, aber jemanden von deiner Größe zu vergessen, is wohl kaum vorstellbar,«
» D AS WIRD WOHL so SEIN .« Das Auge kehrte zurück und starrte wieder Jon-Tom an. »A BER ICH KÖNNTE SCHWÖREN ... AUF JEDEN F ALL BIST DU DER B ANNSÄNGER , VON DEM DIE M EERJUNGFRAU ERZÄHLT HAT . «
»Ich denke schon, es sei denn, sie wäre in den letzten paar Tagen in einen anderen hineingeschwommen.«
Als wäre dieses Eingeständnis irgendwie die Antwort auf alles, bog der Wal den Rücken und tauchte unter, während das Boot in dem auf- gewühlten Wasser wild schaukelte.
»Also, Kumpel.« Mudge schlängelte sich dicht an den Freund her- an. »Was machste daraus? Un was is das für 'ne Sache mit 'ner Meer- jungfrau?«
»Keine große Sache. Vorgestern habe ich kurz mit ihr geplaudert. Sie erzählte, daß ihre Art die Musik verliert, und ebenso die Wale. Ich schätze, unter Wasser verbreiten sich Neuigkeiten schneller.«
Daß Jon-Tom diese Geschwindigkeit sogar noch unterschätzt hatte, bestätigte Heke, als zum zweiten Mal sein Ruf aus dem Mastkorb er- klang.
»Da ist noch einer. Und noch einer - und noch einer!«
Wal um Wal kam an die Oberfläche und spritzte Wasser, was die Luft mit lautem Zischen erfüllte. Bald war das Boot nicht von Dut- zenden von Individuen, sondern von Dutzenden von riesigen Bäuchen umgeben. Nicht nur Blauwale, sondern alle Artgenossen waren vertre- ten. Da waren Buckelwale und Finnwale, Pottwale und Seiwale, Glattwale und Schwertwale. Wie die Patrouillenboote einer Flotte von Flugzeugträgern und Schlachtschiffen sprangen und schossen Hunder- te von unglaublich flinken Delphinen und Tümmlern zwischen ihren größeren Vettern durchs Wasser.
»Ist das nicht ein großartiger Anblick?« rief Aleaukauna sehr be- eindruckt aus.
»Wirklich herrlich.« Mit den anderen Prinzessinnen blickte auch Pivver hingerissen auf die Walflotte.
Die Goliaths schwammen abwechselnd längsschiffs vorbei, um sich das Boot und seine Besatzung näher anzuschauen, während die Rei- senden diese Blicke ihrerseits nur zu gern erwiderten. Schließlich machte die Parade einem ehrwürdigen Buckelwal Platz, dessen Kopf so knorrig war wie die Wurzeln eines Mammutbaumes.
»B IST B ANNSÄNGER DU DEINES Z EICHENS ? «
»Das bin ich meines Zeichens«, erwiderte Jon-Tom im gleichen Stil.
»F REUNDE HABEN UNS AUF DICH AUFMERKSAM GEMACHT . «
»Die Meerjungfrauen, ich weiß.« Er fühlte, wie jemand ihn an der Seite zerrte.
»Sag am besten so wenig wie möglich, Kumpel, solange wir nich wissen, was sie wollen.«
»Was sollen wir machen, Mudge? Uns weigern, ihre Fragen zu be- antworten? Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, wir sind hier ein klein wenig in der Minderzahl.« Er schaute wieder über die Reling.
»Können wir etwas für euch tun? Diese eindrucksvolle Versammlung findet doch gewiß nicht nur zu meinem Nutzen statt.«
»E S W IRD ERHOFFT , D A ß DEINE A NW ESENHEIT UNS Z U M N UTZEN GEREICH T .« Der alte Buckelwal hatte sich leicht auf die rechte Seite gerollt, um besser an Bord sehen zu können. Eine dick mit Entenmu- scheln überkrustete und mit Walläusen übersäte Brustflosse ruhte nun auf der Seite des Bootes.
»Ich verstehe nicht.« Aber in Wirklichkeit fürchtete Jon-Tom, sehr wohl zu verstehen.
» W IR HABEN UNSERE M USIK VERLOREN . G ENAU WIE DIE M EERJUNGFRAUEN . D IEJENIGE , MIT DER DU GESPROCHEN HAST , ERZÄHLTE , SIE HABE DIR DIE G EFAHR GESCHILDERT , IN DER WIR UNS DADURCH BEFINDEN . O HNE UNSEREN G ESANG KÖNNEN WIR UNS NICHT ORIENTIEREN . «
»Ich weiß nicht, was ich für euch tun kann. Zumindest im Mo- ment.« Jon-Tom zeigte nach vorn. »Zuerst muß ich diese sechs Da- men nach Hause geleiten. Danach folge ich einem einsamen Musik- fragment zu dem unbekannten Ort, zu dem es mich
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