Die Entführung der Musik
weiter auf den Strand hinaustrat, rollte sie sich spielerisch auf den Rücken und schaute in reinem, aber keineswegs unschuldigem Übermut kichernd zu ihm auf.
»Wie komisch du aussiehst.«
»Vielleicht liegt es daran, wie du da liegst.«
Sie drehte sich wieder auf den Bauch. »Immer laufen die Männer vor mir davon. Und doch hat man mir erzählt, viele Menschenmänner träumten davon, mit einer Meerjungfrau Liebe zu machen.«
»Du bist sehr... direkt.«
»So hält man es im Meer.« Sie wölbte den Rücken und berührte mit der Spitze ihres bemerkenswerten Schwanzes die Stirn. »Dein Traum ist es also nicht?«
»Es ist ziemlich schwierig, von etwas zu träumen, von dessen Exis- tenz man gar nichts weiß.«
Tief aus dem von Kiemen geriffelten Hals drang Gelächter, und die Ohrflossen, an deren Spitzen Tröpfchen hingen wie Staubperlen, ver- fielen in ein verwirrendes Gewedel.
»Ich habe euch singen gehört«, bemerkte er.
Dir Gesicht bewölkte sich. »Diese schrecklichen Geräusche? Das war kein Singen. Aber etwas Besseres gelingt uns nicht, seit unsere Lieder gestohlen wurden.«
»Gestohlen?«
»Geflohen, verschwunden, weggehext; wir wissen nicht, wie oder warum. Dennoch versuchen wir zu singen, aber es kommt nur ein Grunzen im Chor dabei heraus, wie bei einer Schar träger Walrosse.« Einen Moment lang dachte er, sie werde in Weinen ausbrechen, doch dann sagte er sich, daß Tränen für einen Meeresbewohner mehr als überflüssig waren.
Er richtete den Blick auf den offenen Ozean. »Der Fluch.«
»Fluch?« Sie blinzelte verwirrt, und er sah, daß sie doppelte Augen- lider hatte, wobei das untere Paar vollständig transparent war.
»Du und deine Schwestern, ihr seid nicht die einzigen, die ihre Mu- sik verloren haben.«
»Ich weiß.«
Er runzelte die Stirn. »Du weißt von den Musikern in Mashupro?«
»Was ist das, Mashupro? Ich spreche von den Delphinen und Wa- len, von denen gleichfalls viele die Fähigkeit des Singens verlieren. Für sie geht es dabei nicht nur um Kunst, denn wenn sie nicht singen, können sie sich in der Weite des Ozeans nicht finden und auch ihre Position zum Land oder zum Meeresgrund nicht bestimmen. Ein Wal, der nicht singen kann, ist ein halbblinder Wal.« Sie sah ihn durchdrin- gend an.
»Wie kommt es, daß du von solchen Dingen weißt, Mensch? Nor- malerweise haben die Landbewohner schmerzlich wenig Ahnung von dem, was unter den Wellen vor sich geht.«
»Ich bin ein wenig anders als der durchschnittliche Landbewohner.« Mit übereinandergeschlagenen Beinen setzte er sich vor ihr nieder. Sie reagierte darauf, indem sie sich aufsetzte und den Schwanz so um sich legte, daß er mit der Spitze fast seinen Schuh berührte. Obwohl er sich entschlossen dagegen wehrte, fühlte er seine Aufmerksamkeit dadurch beeinträchtigt.
»Ich bin ein Bannsänger. Das ist eine Art von Hexer, der mit Musik Magie bewirkt.«
»Sänger. Dann sind deine Lieder also nicht verschwunden?«
»Bis jetzt noch nicht. Außerdem reisen wir mit einem Musikfrag- ment, auch wenn ich nicht glaube, daß diese Musik zu euch oder den Walen gehört. Die Musik führt, und wir folgen ihr.«
»Du sprichst von Dingen, die ich nicht verstehe. Aber wenn du so- wohl ein Magier als auch ein Sänger bist, kannst du dann nicht dafür sorgen, daß wir unsere Lieder zurück bekommen?« Sie beugte sich so weit vor, daß ihr Gesicht fast das seine berührte. Der Duft von Salz und Leben umwogte sie, von Seetang und glasklarem Wasser. »Ich täte alles dafür.«
»Das ist nicht nötig.« Er rückte ein wenig von ihr ab, wenn auch nicht so weit, wie möglich gewesen wäre. »Wenn ich überhaupt helfen kann, dann wird meine Hilfe allen zugute kommen. Dir, deinen Schwestern, den Walen, einer kleinen Band in Mashupro, einfach al- len, die aufgrund dieses einzigartigen Phänomens ihre Musik verloren haben.«
»Und was ist mit mir?« flüsterte sie und robbte auf ihn zu. »Hältst du mich für ein einzigartiges Phänomen?« Sie war ihm jetzt sehr nahe.
»Eigentlich...« Er mußte plötzlich heftig nießen, was sie zu einem überraschten Rückzug veranlaßte. Ihr Schwanz peitschte das Wasser, ein Warnreflex, der dem ihrer Wal-Verwandten nicht unähnlich war.
»Entschuldigung. Es ist nur so, daß ...« Wieder nieste er heftig und wischte sich mit dem rechten Handrücken die Nase.
»Was ist los, Menschenmann? Was stimmt nicht?«
Die Nase lief ihm, und nur mühsam konnte er eine Antwort keu- chen: »Ich reagiere allergisch auf
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