Die Entführung der Musik
brachte ein für ihn ganz uncharakteristisches höhnisches Grinsen zustande. »Summ nur ein paar Takte, dann wollen wir mal sehen.«
Hinckel lächelte unangenehm und zog eine zerbeulte, aber noch spielbare Mundharmonika aus der Tasche. Die setzte er an die Lippen und blies darauf ein paar einfache, unvollständige, entsetzlich unhar- monische Töne.
Der purpurfarbene Schleier, der sich inzwischen beinahe in der gan- zen Halle ausgebreitet hatte, zuckte zurück wie von einem Schlag. Fast wäre er ganz verschwunden, doch da erhielt er neue Kraft durch Jon-Toms Gesang und den Übergang in eine Durtonart.
Hinckel taumelte überrascht zu seinem Thron zurück. Das Selbst- vertrauen, das er seit ihrer Ankunft zur Schau getragen hatte, ver- schwand. Jon-Tom spielte und sang weiter, und die purpurfarbene Wolke wogte auf Hinckel zu. Als Hinckel schließlich beschloß, daß stärkere Mittel angebracht seien, und zu singen anhob, verloren die Wolken zwar etwas an Stoßkraft, zerstoben aber nicht.
»Das is es, Kumpel!« An der Seite seines Freundes hüpfte Mudge, das Schwert über dem Kopf schwingend, wild auf und ab. »Gib's ihm! Zeig ihm, was Bannsängerei wirklich is! Mach ihn so fertig, daß er nie wieder auch nur 'ne einzige verschlafene Strophe zusammenkriegt!«
»Genau das werde ich tun«, knurrte Jon-Tom, »wenn du mir nicht mit diesem verdammten Schwert den Kopf abhackst!«
»Ui, Pardon.« Sofort dämpfte der Otter seine Begeisterung und senkte die Waffe.
Da er weder die bedrohliche Purpurwolke noch Jon-Toms Musik durcheinanderbringen konnte, hatte Hinckel sich mit weitaufgerisse- nen Augen zu seinem protzigen Sitz zurück gezogen. Es schien so, als würde Mudge gleich vorstürzen und die Geschichte mit einem äußerst unmelodischen Schwertstreich erledigen, doch da stieß der Möchte- gernsänger einen verzweifelten Schrei aus. Es war das mitleiderregen- de Geschrei eines mißhandelten Kindes; des Jungen, der immer als letzter in eine Mannschaft gewählt wird, der immer bei den Schlech- ten in seiner Klasse ist, nicht der allerschlechteste Schüler (was ihm immerhin noch eine gewisse perverse Auszeichnung verliehen hätte), sondern einfach im unteren Zehntel, diesem formlosen Abgrund der Bildung, aus dem niemals auch nur ein Hauch von Vortrefflichkeit ersteht.
Als Antwort auf seine Klage traten plötzlich Figuren aus der Ge- staltlosigkeit heraus, die bis dahin den Raum hinter dem Thron be- herrscht hatte. Außerhalb der Festungsmauern flammten zum ersten- mal, seit Jon-Tom und Mudge den Fuß auf die Insel gesetzt hatten, Blitze auf.
Schwarze Blitze.
Wütender Donner rüttelte an den schief behauenen Steinen des Schlosses und erschütterte sie bis ins Fundament. Hinckels Text war zum größten Teil unverständlich, seine Musik so quälend wie immer, aber diesmal unterlag jedem Akkord ein Ton der Verzweiflung, eine Dringlichkeit und Bedürftigkeit, wie sie vorher gefehlt hatte. So mit- leiderregend klang es, daß Jon-Tom zögerte. Doch nicht etwa dieses Zögern kostete sie die Beherrschung der Situation. Er und Mudge ge- rieten einfach in die Minderzahl.
Die aus der Dunkelheit hervortretenden Gespenster waren auf alle möglichen Arten bekleidet, von Samt und Seide bis zu Lendenschur- zen und Kniebundhosen. Manche hatten römische Togen an, während andere zerrissene Jeans und ausgetretene Sandalen zur Schau trugen. Ausgebleichte Batikhemden flatterten unter zerfranstem Hippy- Halsschmuck, aus zu kleinen Smokings wölbten sich behaarte Arme hervor, und schwarze Lederjacken waren mit Spitzen verziert.
Eine der Erscheinungen, die sich Mudge näherte, war so widerlich gekleidet, daß selbst der abgebrühte Otter den Blick abwenden mußte.
»Nicht das!« stöhnte Mudge. »Alles, aber... aber nur kein Plaid!«
Auf dreckstarrenden Flügeln und zerfetzten Flughäuten schwebte der schmutzige Haufen, der seit Jahren ein Bad nötig hatte, in die gro- ße Halle herein. Dabei spielten die Gespenster ihre Instrumente. Und sie sangen, summten und schlugen die Hände in einem Takt zu- sammen, dem nicht zwei von ihnen folgen konnten. Sie trugen ihre Instrumente in den Händen, von alten Lauten bis zu leicht veralteten Synthesizern, und dazwischen alles nur Denkbare.
Jon-Tom erkannte ein Violoncello. Eine der Erscheinungen kämpfte mit einer verstimmten Gamelan. Es gab Flöten und Gitarren, Rumba- kugeln und Trommeln, Didgereedoos und Banjos. Beim Spielen san- gen die Phantome.
Sie erreichten jeweils unterschiedliche Grade
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