Die Entführung der Musik
Hinckels heulenden Phantomen dicht auf den Fersen, flohen Jon-Tom und Mudge aus der Festung. Um sie her zerbröckelte das Felsgestein des Berges, denn die Antimusik ließ den grauen Basalt zu traumatisierten Splittern zerfallen. Es war nicht überraschend, daß sie in der Verwirrung den Abhang verfehlten, den sie beim Aufstieg er- klommen hatten.
Am Rande eines Abgrundes kam Mudge gerade noch rechtzeitig zum Stehen und suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Unendlich weit unten krachten Wellen gegen den nackten Fels, das Echo der Brandung war nur noch ein fernes weißschäumendes Gewisper. Ne- ben Mudge blieb nun auch Jon-Tom stehen.
Hinckel und sein schrecklicher Chor folgten dichtauf.
»Sorry, Mann. Du hattest deine Chance. Weder du noch sonst ir- gendeiner darf sich mir in den Weg stellen.« Dann tat er das Schlimnstmögliche. Von seinem gespenstischen Gefolge begleitet, begann er zu singen.
Im Freien klang seine Stimme keineswegs besser, und sie blieb das wohl schrecklichste Instrument, das ein feindseliger DNA-Strang je- mals hervorgebracht hatte.
Die Hände auf die Ohren gepreßt, stand Mudge schwankend am Rande des Abgrunds. Nicht einmal der behende Otter konnte diesen glatten Felsabsturz hinunterkommen. Könnten sie den Abgrund vor dem nächsten, niedriger gelegenen Gipfel überwinden, fanden sie leicht einen Pfad zur Küste. Da jedoch keiner von beiden Flügel be- saß, und auch keine Aussicht für sie bestand, in unmittelbarer Zukunft welche zu erwerben, schien dies allerdings eine eher unwahrscheinli- che Entwicklung zu sein.
»Ich weiß nicht...«
»Sing was Hoffnungsvolles, Optimistisches«, drängte Mudge ihn aufgeregt. »Sing es laut und klar.«
Im Laufe der Jahre hatte Jon-Tom sich Übung darin erworben, unter Druck Text und Melodie eines Songs zu erstellen. Das Lied, mit dem er es schließlich versuchte, war so lieblich, wie Hinckels Gesang roh war. Verglichen mit dem Gegner, klang Jon-Toms sound eher un- gleichmäßig zu nennender Tenor wie Nat King Cole.
Wie ihm ausgerechnet Donners Solo aus dem Schlußsatz von Das Rheingold in den Sinn gekommen war, hätte er nicht sagen können, doch eine Rockversion des heroischen Gesangs erwies sich als genau das Richtige für die Situation. Er hatte keinen Hammer, mit dem er den Fels unter seinen Füßen hätte zerschlagen können, doch er konnte richtig starkes Heavy Metal zu Hilfe rufen.
Aus der Duar wogte purpurroter Dunst, doch diesmal nicht als Wolke, sondern in einem exakten, wie maschinell gefertigten Bogen. Er sprang aus dem Nexus der Duar und wölbte sich über den schwin- delerregenden Abgrund, wobei er die Farbe wechselte, als er sich ver- dichtete. Mit rasender Geschwindigkeit durchfuhr er alle Schattierun- gen des Spektrums und verfestigte sich schließlich als eine Regenbo- genbrücke, die nicht nur die Kluft zum nächsten Gipfel überspannte, sondern sogar ganz bis zum weitentfernten Küstenstreifen führte und erst dort endete.
Mudge war halb verrückt von der Folter durch Hinckels makabre Stimmgebung und zögerte nicht. Er sprang auf den Regenbogen hin- aus und rannte ihn entlang, wobei seine Stiefel bei jedem Schritt meh- rere Fingerbreit in den blütenzarten flüchtigen Dunst einsanken.
»Komm schon, Kumpel!« rief er zu Jon-Tom zurück. »Sie 'ält!«
»Unfair, unfair!« Hinckel versuchte zu folgen, hatte aber nicht ge- nug Mut, auf die schimmernde, durchscheinende Brücke hinauszutre- ten. Aber das mußte er auch nicht. Mit seinem ketchupverkleckerten Finger zeigte er in Jon-Toms Richtung. »Ihnen nach! Geht an die Oh- ren. Dreht die Lautstärke auf!«
Auf zerfetzten, aber dennoch flugfähigen Flügeln schoß der disso- nante Chor los und setzte sich den Fliehenden auf die Fersen.
»Schau nich nach unten, Kumpel!« Die Regenbogenbrücke war zwar so breit, daß sie nebeneinander rennen konnten, doch kaum großzügig zu nennen. Zu beiden Seiten ging es mehrere tausend Fuß hinab.
Beim Laufen waren die Ohren der Flüchtenden ständig den verzerr- ten Karikaturen von Harmonien ausgesetzt. Jon-Tom schaute zurück und sah, daß Hinckels Gefolge rasch aufholte. »Sie kommen uns nach!«
Mudge versuchte, schneller zu laufen. Er war wesentlich behender als Jon-Tom, doch seine kurzen Beine stellten einen schwerwiegenden Nachteil dar.
»Das schaffen wir nie, Kumpel!« keuchte er. »So schnell, wie die fliegen, können wir nich rennen.«
»Ich weiß. Vor schlechter Musik kann man nicht weglaufen.« Hinckel wollte mit ihnen Schluß
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