Die Entführung der Musik
sie einmal mein überlegenes Talent aner- kannt haben, wenn sie mich würdigen, dann vielleicht, vielleicht. Et- was von ihrer alten Musik können sie dann wiederhaben. Einen klei- nen Piccolotriller hier, ein dummes Liebeslied da. Aber erst wenn ich die Anerkennung bekommen habe, die meinem Talent gebührt.« Mit einer unsicheren Handbewegung fügte er hinzu: »Und in der Zwi- schenzeit schenke ich euch die Freiheit. Geht, ihr dürft verschwinden. Heute habe ich meinen großmütigen Tag.«
Jon-Tom runzelte die Stirn. »Du redest nicht wie der durchschnittli- che Heavy Metal-Sänger.«
Hieronymus Hinckel stieß ein Schnauben aus. »Meinst du, der fiese Gathers ist der einzige Mensch mit Bildung? An der Universität von New York habe ich Wirtschaft studiert und stand ein Jahr vor dem Abschluß.«
Mudge reckte sich zu seinem Gefährten hin und flüsterte: »Nichts als Lügen, Kumpel. Wer 'at je ge'ört, daß einer ein Wirtschaftsstudium aufgibt, um Leadsänger in 'ner verrückten Band zu werden?«
»Wir gehen hier nicht weg.« Jon-Tom stählte sich. Hinckel zog die Augenbrauen zusammen, so daß sich tiefe Falten in sein ohnehin fins- teres Gesicht gruben.
Nun wirkte er nicht mehr ganz so elementar doof und bekam fast etwas Drohendes.
»Ich warne dich. Ich gebe dir nur eine Chance, weil du keins von diesen dämlichen Plappertieren bist wie diese Ratte neben dir.«
Mudge zog das Schwert. »Ohne Stimmbänder wird das Singen gar nich so leicht für dich sein, Chef. Oder sollten wir mal versuchen, dei- ne Stimme auf Dauer 'n paar Oktaven 'ö'er zu machen? Vielleicht wird sie dann besser. Deine Stimmung 'ebt es garantiert.
Was das angeht, daß du mich beleidigen willst, indem du mich 'n Tier nenns - was soll das, wir sind 'ier alle Tiere, Chef.«
»So ist es«, pflichtete Jon-Tom selbstsicher bei.
»Du hast recht.« Hinckel schwang sich auf dem Sitz herum und leg- te die Beine auf die Armlehne des Throns. »Du warst wirklich sehr lange hier. Was erwartest du jetzt also von mir?«
»Laß die Musik frei. Entferne die Hexerfesseln, die die Harmonien zurück halten. Laß sie zu den Instrumenten und Kehlen zurück kehren, die schon auf sie warten.« Mit einer Geste umfaßte Jon-Tom die grimmigen Festungsmauern. »Wenn du hier bleiben, König der Insel sein und dich selbst um den Verstand singen willst, so bin ich der ers- te, der dein Recht dazu anerkennt. Aber wenn du die Musik aller ande- ren wegnimmst, dann wirst du ein schlechterer Musiker, kein besse- rer.«
»Da ‘ast du verdammt recht«, bellte Mudge. »Man kann 'ne Menge Dinge stehlen, Kumpel, ich muß es ja wissen. Aber Talent kann man nich stehlen.«
»Welch großartige Reden. Seid ihr jetzt beide fertig?«
Jon-Tom hatte nun seinen Text parat. »Noch nicht ganz. Wenn du es immer noch nicht kapiert hast, na gut, ich habe schon immer an au- diovisuelle Hilfen geglaubt.« Er strich mit den Fingern über die Saiten und begann zu singen.
Tief aus dem Nexus der Duar stieg ein Dunst auf, wie Mudge ihn noch nie gesehen hatte. Aus dem unmöglichen Nabel, dem Schnitt- punkt der zwei Saitensätze des wundersamen Instruments, floß ein tief purpurroter, neonleuchtender Strom. Der Otter zog sich mehrere Schritte zurück. Bei solchen Gelegenheiten konnte man nie sagen, was geschehen würde.
Jon-Tom wußte es selbst oft am allerwenigsten.
Ein Ding ist wichtig bei Musik, das vergessen Leute oft, ein Lied darf man nicht einsperrn, nur mit Raum wächst es wie erhofft. Bei den Stilen herrscht da Gleichheit, Klassik, Rap, Jazz oder Soft, Nur im Herzen gibt es Freiheit für diesen Superstoff!
Hieronymus Hinckel war keineswegs beeindruckt. Er richtete sich wieder auf und betrachtete unschlüssig die Wolke, als wäre sie ein an der Kreuzung von Second Avenue und Twentysixth Street aufsteigen- der widerlicher Qualm.
»Hey, nicht schlecht.« Er erhob sich von seinem Thron, schlenderte zu einem hohen schmalen Fenster und spähte hinaus. Ein Strom von Tönen durchfloß den Raum, ein tiefer musikalischer Seufzer wie von hundert plötzlich der Luft beraubten Klarinetten. »Sieht so aus, als wäre es dir gelungen, einen kleinen Teil meiner hier gesammelten Musik zu befreien. Dann muß ich sie mir eben zurückholen.« Er dreh- te sich um und sah seine Besucher an.
»Dir muß ich natürlich auch das Handwerk legen. Wollte dir eigent- lich deine Musik nicht wegnehmen, aber wenn du darauf bestehst, daß es hart rangehen soll...« Jon-Tom, der schon wieder neue Verse ent- warf,
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